Als die Eisenbahn nach Murrhardt kam

Serie „Virtueller Rundgang durch die neue stadtgeschichtliche Abteilung im Carl-Schweizer-Museum“: Anschluss ans Schienennetz

Eine besonders wertvolle, einzigartige historische Originalaufnahme, leicht koloriert, dokumentiert ein epochales Ereignis für die Walterichstadt: Die Feier zur Einweihung der Murrtalbahn und des Bahnhofs am 11. April 1878, somit den Anschluss an das Eisenbahnnetz des Königreichs Württemberg.

Als die Eisenbahn nach Murrhardt kam

Die Einweihung der Murrtalbahn mit dem Anschluss Murrhardts ans Schienennetz wurde gebührend gefeiert. Die ganze Stadt war geschmückt und ein großes Banner begrüßt die Festgäste, wie die historische Originalaufnahme zeigt. Foto: Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Der Blick vom Bahnhof über die Ochsenbrücke zur Innenstadt zeigt, dass die Einwohner die Innenstadt festlich mit Fahnen, Blumen, Girlanden und einem Begrüßungsspruchbanner geschmückt hatten: „Nehmt unsere Grüsse freundlich an: Willkommen, werthe Gäste! Und ist’s auch nur ein Theil der Bahn, wir feiern ihn aufs Beste!“ Dazu fand am Bahnhof ein Festakt mit den städtischen Honoratioren, Landtagsabgeordneten und anderen prominenten Gästen vor großer Zuschauerkulisse statt, und die Einwohner begingen den besonderen Tag mit diversen festlichen Aktivitäten.

Die originale Fotografie schmückt nun eine der Vitrinen in der neuen stadtgeschichtlichen Abteilung des Carl-Schweizer-Museums. Museumsleiter Christian Schweizer erhielt das Bilddokument als Spende von einer in Hamburg lebenden Nachfahrin einer Murrhardter Familie. Weitere historische Aufnahmen sind auf einer Bilderwand als Reproduktionen im neuen Medienraum zu sehen, der sich an den Ausstellungsraum anschließt.

„Initiator und stärkster Förderer der Murrtalbahn als überaus wichtige Verkehrsanbindung für Murrhardt und die Nachbarorte war der Schlossermeister und Politiker Ferdinand Nägele. Zur Einweihungsfeier kreierte er einen Spruch, der dieses bedeutende historische Ereignis in die Vergangenheit der Walterichstadt einordnet: ‚Vor zwei Jahrtausend Römerwälle, vor tausend Jahren Klosterzelle, und heute eine Eisenbahn, mein liebes Murrhardt, denk daran‘“, erinnert Christian Schweizer.

Der Bau der rund 60 Kilometer langen Strecke der Murrtalbahn erfolgte in Abschnitten und begann von Backnang her in Richtung Murrhardt. Mit dieser Bahnstrecke schufen die Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen eine Diagonalverbindung durch das Königreich Württemberg von Nordosten nach Südwesten. Damit sollte die Verbindung aus Nürnberg über Crailsheim nach Stuttgart gegenüber den bereits bestehenden Strecken über Aalen und Heilbronn verkürzt werden. Planung und Bau der Strecke oblagen Oberbaurat Carl Julius Abel.

Am 26. Oktober 1876 wurde der Streckenabschnitt zwischen Waiblingen und Backnang eröffnet. Am 11. April 1878 folgte der Abschnitt zwischen Backnang und Murrhardt, zugleich weihte man die dortigen Bahnhofsgebäude ein. Am 1. Dezember 1879 folgte der Abschnitt zwischen Hessental und Gaildorf, und am 15. Mai 1880 konnte die Lücke zwischen Murrhardt und Gaildorf geschlossen werden. Auf dem letzten Abschnitt war der Bau zweier Tunnel erforderlich, die im Gegensatz zur übrigen Strecke zweigleisig angelegt wurden.

„Wie beim Bau anderer neuer Bahnlinien waren Norditaliener als Bauarbeiter beschäftigt, denn diese waren Spezialisten für den Eisenbahn-, Wege- und Straßenbau, vor allem in bergigen oder gebirgigen Gebieten. Sie waren zugleich die ersten Gastarbeiter in Württemberg, und einige Familien blieben nach Abschluss der Bauarbeiten in Murrhardt“, hat der Museumsleiter recherchiert. Ausländische Wander- und Saisonarbeiter waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts bei etlichen großen Bauprojekten tätig. Viele von ihnen stammten aus norditalienischen Provinzen wie der Emilia-Romagna, aus Venetien und dem Friaul.

Dazu erzählt Christian Schweizer auch eine überlieferte Anekdote. Die beim Bau der Murrtalbahn beschäftigten norditalienischen Arbeiter lebten teils allein, teils mit ihren Familien in der Nähe der Baustelle und des heutigen Bahnhofs in einfachsten mobilen Baracken. Zum Ausgleich für die schwere körperliche Arbeit an der Strecke von frühmorgens bis spätabends, die damals noch komplett ohne maschinelle Hilfsmittel erfolgte, pflegten sie ihre südländische Lebensart. „Sie feierten gerne mit viel Wein, was einmal in lautstarken nächtlichen Ruhestörungen eskalierte. Daraufhin alarmierten die Einwohner Mitglieder des Murrhardter Kriegervereins, das waren Veteranen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, um diese Herrschaften im Zaum zu halten. Denn damals gab es in der Walterichstadt noch keinen Polizeiposten, nur einen einzigen Landgendarmen und Büttel. Deshalb benötigte man diese Verstärkung durch die ehemaligen Soldaten“, erklärt der Museumsleiter.

Im Hintergrund standen auch militärische Interessen

Im Königreich Württemberg begann der Eisenbahnbau in den 1840er-Jahren, zugleich wurden die Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen gegründet. Von 1845 bis 1854 baute man die Hauptstrecken, von 1859 bis 1874 die Ergänzungsstrecken, und 1876 bis 1893 Verdichtungsstrecken. Dabei standen volkswirtschaftliche Erwägungen im Vordergrund: Ziel war es, durch den Ausbau der Verkehrsverbindungen die Erwerbsverhältnisse des Landes zu verbessern.

Nach der Reichsgründung 1871 trat Württemberg dem Deutschen Kaiserreich bei. Die danach gebauten Bahnstrecken dienten dazu, Lücken in Ost-West-Richtung auch im militärischen Interesse zu schließen, um die Transportkapazitäten in Richtung zur französischen Grenze zu erhöhen. Das bedeutendste Projekt dieser Zeit war die Verbindung zwischen dem Nordosten und dem Südwesten des Landes, wozu auch die Murrtalbahn gehörte. In der neuen Abteilung dokumentieren verschiedene Exponate weitere bedeutende Ereignisse und Entwicklungen im 19. Jahrhundert, wie die Auswanderung zahlreicher Murrhardter Familien. Ziel der ersten Auswanderungswelle zwischen 1817 und 1850 war Russland. Ein Bild zeigt Pfarrer Eduard Wüst aus der Familie der Waldhorn-Wirte. Er wanderte in die Region von Molodschna bis Berdjansk am Asowschen Meer, einem Teil des Schwarzen Meeres, in der heutigen Ukraine aus. Dort gründeten die Auswanderer, darunter etliche evangelikale und mennonitische Gläubige, zahlreiche Gemeinden, und Eduard Wüst avancierte zum bedeutenden Missionar bei den Mennoniten.

Ab 1850 wanderten viele Murrhardter in einer zweiten Welle nach Amerika aus. Und etwas später emigrierten Mitglieder der aus der pietistischen Bewegung hervorgegangenen christlichen Tempelgesellschaft oder Jerusalemfreunde ins Heilige Land, also nach Palästina. Nach den schwierigen Jahren mit Hungersnöten und politischen Unruhen Mitte des 19. Jahrhunderts stabilisierten sich die Verhältnisse im Murrtal. Handel und Gewerbe erlebten ab den 1860er-Jahren und in der Gründerzeit einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Bereits 1864 gründeten örtliche Geschäftsleute den Gewerbeverein und 1869 die Gewerbebank der Walterichstadt, wobei wiederum Ferdinand Nägele die treibende und federführende Kraft war.