Sechs aus zwanzig: Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht. Die sechs Romane sind sehr unterschiedlich, aber haben doch einiges gemein.
Die Bücher auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stehen fest.
Von Von Jenny Tobien, dpa
Frankfurt/Main - Da ist die literarische Annäherung an einen Amoklauf, das Verschwinden zweier Backpackerinnen im Dschungel von Panama, die Frage nach Selbstbestimmung, wenn das Leben von einer psychischen Krankheit fremdgesteuert ist oder die Geschichte zweier sich liebender Frauen im vorrevolutionären Frankreich.
Vier Autorinnen und zwei Autoren haben es in die engere Auswahl für den Deutschen Buchpreis geschafft. Mit der Shortlist werde in verschiedenste Abgründe geblickt, erklärt die Jury. Zugleich sei jede Lektüre ein "Befreiungsschlag".
Auf der sogenannten Shortlist stehen (in alphabetischer Reihenfolge):
Dorothee Elmiger: "Die Holländerinnen"
Zwei niederländische Studentinnen verschwinden im Dschungel von Panama. An diese wahre Begebenheit ist der Roman angelehnt, der von einer kollektiven Grenzüberschreitung erzählt. Darin wird eine Künstlergruppe zu einem Theaterprojekt geladen, um den Spuren der beiden nachzugehen. Das Projekt läuft vollkommen aus dem Ruder. "Die Beteiligten werden vom Urwald nahezu eingeschluckt, geraten in eine milde Form des Wahnsinns und erzählen sich verstörende Geschichten aus ihrer Vergangenheit", so die Jury. "Ein eigenwilliger, fesselnder Trip ins Herz der Finsternis." Und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt: "Diese Lektüre lässt nicht mehr los."
Kaleb Erdmann: "Die Ausweichschule"
Erdmann, der als Kind den Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium miterlebte, nähert sich diesem in seinem Buch. "Die Ausweichschule" ist auch eine Geschichte über das Schreiben und die Frage, wie man von der Wirklichkeit erzählen kann. Erdmann gelinge, "ohne politische Mission, ohne Sensationslust mit den Ereignissen literarisch umzugehen: suchend, tastend, selbstironisch", erklärt die Jury. Die Balance zwischen Distanz und Annäherung an den Amoklauf überzeuge sprachlich ebenso wie die Beschreibung der Suche nach der Verlässlichkeit von Erinnerung. Autorin Caroline Wahl ("22 Bahnen") beschrieb die Lektüre als das "Traurigste, Lustigste und Beste, was ich seit langem gelesen habe".
Jehona Kicaj: "ë"
In ihrem Debüt erzählt Kicaj vom Aufwachsen eines Kinds von Geflüchteten aus dem Kosovo. Vom Verlust der Heimat durch Krieg, von Schmerz und Sprachverlust. Das Buch kommt still und sprachmächtig daher. Die Jury sprach von einem außergewöhnlichen Roman und teilte mit: "Ausgehend von einer Kiefer-Erkrankung der Erzählerin - die zu Sprachlosigkeit führen kann - setzt sie sich auf verschiedenen Erzähl- wie Zeitebenen mit ihrer kosovarischen Herkunft aus der Diaspora auseinander, zu der auch die Ignoranz und Unwissenheit ihrer deutschen Mitbürger*innen über ihr Land gehören." Für "ë" erhielt Kicaj den Literaturpreis der Stadt Hannover (HANNA). "Ihre leise Prosa eröffnet Innenperspektiven geflüchteter Menschen mit sprachlicher Intensität, doch ohne Anklage", hieß es dort.
Thomas Melle: "Haus zur Sonne"
Schon in "Die Welt im Rücken" (2016) verarbeitete Melle sein Leben mit bipolarer Störung literarisch. Nun legt er einen Roman vor, der laut Verlag "die Grenzbereiche zwischen Autobiografie und Fiktion, zwischen Sehnsucht und Depression und letztlich zwischen Leben und Tod weiter auslotet." Melle, der mit seinem dritten Werk auf der Shortlist steht, erzähle von "extremen Höhenflügen, niederschmetternden Landungen und dem unbändigen Wunsch, das eigene Leben ad acta zu legen", befindet die Jury. Der Roman führe in den Abgrund und in eine Wunscherfüllungsklinik namens "Haus zur Sonne". Melle entwerfe eine ebenso dystopische wie utopische Welt. Der "Tagesspiegel" schreibt: "Ein schonungsloser Blick in eine psychisch kranke Seele".
Fiona Sironic: "Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft"
Das zweite Debüt auf der Shortlist kommt temporeich daher. "Sironic erzählt von einer Jugend, die im Gefühl lebt, wenig Zeit zu haben. Die Arten sterben, die Natur glüht, das Internet gibt Takte der Kommunikation vor", so die Jury. Die Mädchen, deren Liebesgeschichte den Roman bewege, lebten im doppelten Aufstand: gegen die Verwüstung der Welt durch ökologischen Raubbau und durch "Mommyinfluencerinnen". Unruhig, einfallsreich, konfliktfreudig und komisch halte einen das Buch in Atem. Und beim NDR heißt es: "Ein dichtes und vielschichtiges Debüt, dessen rund 200 Seiten in Nullkommanichts weggelesen sind, aber umso länger nachhallen und zum Nachdenken anregen."
Christine Wunnicke: "Wachs"
Wunnicke, jüngst mit dem Jean-Paul-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, entführt mit ihrem neuen Roman ins Frankreich des 18. Jahrhunderts und erzählt von zwei sich liebenden Frauen. Da ist Marie, die schon im zarten Alter Leichen seziert, um deren Innenleben aus Wachs zu modellieren. Und da ist Madeleine, die ältere botanische Zeichnerin. "Unbeirrt, wie Marie mit ihrem Skalpell und Madeleine mit dem Pinsel, schreibt Wunnicke eine faszinierende Geschichte. Gewitzt, versponnen, unterhaltsam", befindet die Jury. Und bei "3sat Kulturzeit" heißt es: "Ein Sprachkunstwerk, das in feinster Präzision daherkommt. (...) Funken schlagen zu lassen, das gelingt Wunnickes Roman."
Aber was verbindet diese sechs sehr unterschiedlichen Romane?
Es sei kein Zufall, dass mit der Shortlist in psychologische, gesellschaftliche und politische Abgründe geblickt werde, sagte Jurysprecherin Laura de Weck. "Sei es tastend, versponnen, mit Witz oder Radikalität, dabei immer hochliterarisch." Und: "So unterschiedlich die Erzählweisen und die Sprachgestaltung sind, so scheinen die Romane miteinander zu korrespondieren, zum Beispiel in Themen wie Gewalt, aber auch Zärtlichkeit." Das müsse aber keineswegs düster klingen, erklärte de Weck. "Jede Lektüre auf der Shortlist ist ein Befreiungsschlag."
Jury hatte 229 Titel gesichtet
Auf der Longlist standen zuvor 20 deutschsprachige Romane, insgesamt hatte die Jury 229 Titel gesichtet. Wer gewinnt, wird am 13. Oktober bekanntgegeben - dem Tag vor der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse.
Der Deutsche Buchpreis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche und ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert. 2024 ging die Auszeichnung an Martina Hefter für ihren Roman "Hey guten Morgen, wie geht es dir?".
Jehona Kicaj ist für ihren Roman "ë" nominiert (Archivbild).
Fiona Sironic steht mit "Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft" auf der Shortlist 2025 (Archivbild).
Kaleb Erdmann ist mit seinem Roman "Die Ausweichschule" auf der Shortlist 2025 vertreten (Archivbild).
Dorothee Elmiger könnte mit "Die Holländerinnen" gewinnen (Archivbild).
Thomas Melle ist mit "Haus zur Sonne" nominiert (Archivbild).
Christine Wunnicke stet mit "Wachs" auf der Shortlist (Handout-Foto)