Volker Kauder

„Die CDU war nie eine konservative Partei“

Im Gespräch mit unserer Zeitung warnt der langjährige Unionsfraktionschef im Bundestag, Volker Kauder, seine Partei vor einer Abkehr von den christdemokratischen Wrzeln

„Die CDU war nie eine konservative Partei“

Volker Kauder sagt, Wirtschaftsthemen sind wichtiger als Asylpolitik.

Von Norbert Wallet

Die CDU ist im Wandel. Unter Parteichef Friedrich Merz und Generalsekretär Carsten Linnemann ist sie konservativer geworden. Der Kurs ist nicht unumstritten in der Union. Im Interview redet Volker Kauder, der langjährige Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, seiner Partei ins Gewissen. Er warnt eindringlich vor einer Abkehr von den christdemokratischen Wurzeln.

Herr Kauder, Unionsfraktionen galten immer als Stabilitätsanker in einer Koalition und als eine Kompromissmaschine. Heute kann man das nicht mehr so sagen. Teilen Sie die Einschätzung?

Das Regieren kann jedenfalls nur dann funktionieren, wenn es zwischen den Regierungsfraktionen Vertrauen gibt. Die müssen auf Kompromiss gepolt sein. Dazu ist ein sehr gutes Verhältnis zwischen den Fraktionsvorsitzenden notwendig.

Sie haben in ihrer Zeit ein sehr enges Verhältnis zu ihrem SPD-Pendant Peter Struck gepflegt. Was braucht es, um konstruktiv zusammenzuarbeiten?

Das Wichtigste ist: Man darf den Anderen nicht überraschen. Ideen, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen, müssen im vertraulichen Gespräch vorsondiert werden. Die ständigen Überraschungsangriffe waren schon das große Problem in der Ampel.

Aber auch innerhalb der Unionsfraktion wird die Kompromissbildung schwieriger. Die Zentrifugalkräfte in der Partei nehmen zu.

Die Partei kann sich kontroverse Debatten leisten. Die Fraktion muss handlungsfähig sein. Deshalb müssen sich ihre Mitglieder darauf besinnen, was der Wesenskern christdemokratischer Politik ist. Das ist für mich das christliche Menschenbild.

Das fällt aber immer schwerer.

Ja. Wenn man die eigene Außendarstellung auf wenige Punkte wie die Asylwende reduziert, hat man es sofort schwerer, alle mitzunehmen. Mir gefällt da oft die Wortwahl nicht. Wieso spricht man von „Asylwende“ oder „Wende in der Sozialpolitik“. Das trägt eher dazu bei, innerparteiliche Kampflinien aufzubauen. Vielleicht finden ja manche, dass nicht alles falsch war in der vergangenen Politik.

Kräfte in der Union wollen die Partei zu einer stramm konservativen Partei nach dem Vorbild der Torys in Großbritannien ummodeln.

Dagegen habe ich mich immer gewehrt. Die CDU war nie eine konservative Partei. Aus der Erfahrung der Weimarer Zeit und der Nazidiktatur hat sie sich bewusst überkonfessionell unter dem Dach des „C“ versammelt und konservative, liberale und soziale Strömungen vereint. Jetzt einfach zu fordern, dass wir konservativer werden sollten, erfüllt diesen Anspruch nicht.

Ist die Partei also dabei, ihr christliches Erbe zu verlieren?

Insgesamt ist der Eindruck wohl richtig, dass sich die Union konservativer aufstellen will. Auch wenn man aktuelle öffentliche Debatten verfolgt, kommt dieses konservative Profil stärker zum Ausdruck als das christliche Menschenbild. Ich frage mich da nur: Was heißt konservativ eigentlich?

Was heißt es für Sie?

Für mich ist konservativ eine Haltung, kein fest umrissener Inhalt. Die Menschen haben unterschiedlichste Vorstellungen davon. Dieses Diffuse, das den Begriff umwabert, entfremdet die Leute von der CDU. Weil sich jeder etwas Anderes von konservativer Politik verspricht, können wir nie alle Erwartungen erfüllen. Das führt zu Enttäuschungen.

Was geht denn verloren, wenn sich die Union nicht mehr in erster Linie dem christlichen Menschenbild verschreibt?

Die Identifizierung der Wähler mit unseren Positionen wird schwieriger. Die einen verstehen unter konservativ eine knallharte Haltung bei Migration oder der Abtreibungsfrage. Andere finden den Ausbau der erneuerbaren Energie eine konservative Aufgabe, weil sie die Natur schont. Deshalb ist mit dem Begriff „konservativ“ in praktischer Politik nichts anzufangen. Ich rate deshalb dringend, den Satz „Die CDU muss konservativer werden“ nicht mehr zu verwenden.

Aber auch unter dem christlichen Menschenbild lässt sich Verschiedenes verstehen…

Nein. Das kann man ganz konkret machen: Wenn CDU-Politiker über Flüchtlinge und Migration sprechen, muss ganz deutlich werden, dass sie anders reden als die AfD. Das christliche Menschenbild verbietet jeden rassistischen und völkischen Unterton. In der Migrationspolitik heißt das für mich: Wir können nicht jeden Hilfesuchenden nach Deutschland holen. Aber derjenige, der verfolgt wird, der in Not ist, etwa weil er sich weigert, in die syrische Armee einzutreten und deshalb fliehen muss – der hat Anspruch auf Hilfe in unserem Land. Und damit ist das Land auch nicht überfordert.

Die Bindewirkung der christlichen Botschaft lässt in der gesamten Gesellschaft nach, nicht nur in der Union.

Christliche Politik gibt es nicht, und die CDU war nie eine christliche Partei. Die CDU hat aber einen klaren Wertekompass – und das ist das christliche Menschenbild. Auch in einem säkularisierten Land wissen die Menschen, was das bedeutet: Im Anderen das Ebenbild Gottes zu sehen und ihn entsprechend zu behandeln und über ihn zu reden.

Da fällt auf, wie ausgrenzend die Sprache der CDU geworden ist. Immer geht es um Abgrenzung: gegenüber Migranten, gegenüber angeblichen Sozialbetrügern, auch gegenüber den Grünen.

Ja, das ist ein Problem. Wenn Christdemokraten über andere sprechen, muss immer deutlich werden, dass sie am christlichen Menschenbild Maß nehmen. Wir dürfen nicht die Grünen beschimpfen, sondern unsere Alternativen in der Sache aufzeigen. Überhaupt sollten wir weniger über andere reden, sondern die Geschichte erzählen, was wir aus Deutschland machen wollen.

Was haben Sie gedacht, als Friedrich Merz vor der Bundestagswahl einen Entschließungsantrag mit Hilfe der AfD durchdrückte.

Wir wollten im Wahlkampf über das Thema Wirtschaft sprechen. Mit dem Vorgehen war diese Absicht unmöglich geworden. Ein anderes Thema stand nun ganz oben. Als ehemaliger Generalsekretär kann ich nur sagen: Das war ein strategischer Fehler. Er hat von dem Thema abgelenkt, bei dem wir in den Augen der Bevölkerung die höchste Kompetenz haben. Das hat dann auch das Wahlergebnis gezeigt.

Und in der Sache?

Es muss deutlich bleiben: Mit der AfD gibt es keine Zusammenarbeit. Darauf muss sich jeder Wähler verlassen können.

Aber bei einigen Themen hat die Union längst die Übereinstimmung mit der AfD – von der Migration bis zum Gendern.

In allen existenziellen Themen, von der Unterstützung der Ukraine bis zur Bedeutung der EU, gibt es keinerlei Gemeinsamkeiten mit der AfD.

Spricht dann die Union zu oft über Nebenthemen?

Jedenfalls sollte die Union in der aktuellen Situation vor allem über die wirtschaftliche Lage reden. Wie es mit ihrem Arbeitsplatz weitergeht, interessiert die Menschen viel mehr als das Gendern.

Sind Sie für ein AfD-Verbot?

Wir haben im Moment keine hinreichend große Sicherheit, um einen solchen Prozess zu gewinnen. Das Verlieren wäre aber ein furchtbarer Rückschlag und ein Fest für die AfD. Deshalb rate ich dazu, mit der Debatte darüber aufzuhören. Stattdessen müssen wir die existenziellen Themen in den Mittelpunkt stellen. Im Klartext: Die wirtschaftliche Zukunft ist den Menschen wichtiger als die Asyl- und Migrationspolitik.