Die Faszination des Abgrunds

Mit Gruseln blickt Deutschland auf die Regierungsbildung in Frankreich – ein Drama, das Europa mitreißen könnte.

Von Eidos Import

Die Faszination des politischen Abgrunds entfaltet vor allem Wirkung, wenn man noch nicht selbst betroffen ist. Wer Deutschland gegenwärtig schon in schwerem Fahrwasser wähnt, sollte nach Frankreich schauen. Dort bietet die politische Klasse ein Schauspiel, das längst seine komödienhaften Züge verloren hat. Es könnte sich gar zu einer Tragödie auswachsen, die ganz Europa erfasst.

Vier Regierungschefs hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seit der Parlamentswahl im vergangenen Jahr verschlissen, ohne dass die politische Blockade zwischen den drei Lagern Links, Mitte und Rechts gelöst worden wäre.

Währenddessen driftet das Land mit seiner schwächelnden Wirtschaft und einer Schuldenlast von fast dreieinhalb Billionen Euro auf die Unregierbarkeit zu. Reformen sind undenkbar, solange sich die politischen Kontrahenten nicht auf Kompromisse einigen. Und das ist schwer, denn mit Koalitionsregierungen von Parteien aus unterschiedlichen Lagern hat Frankreich so gut wie keine Erfahrung.

Momentan eint die beiden stärksten Blöcke Links und Rechts nur die Forderung, keine Abstriche am Sozialstaat hinzunehmen. Macrons Rentenreform hat schon Unmut ausgelöst, Sparanstrengungen oder Maßnahmen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, lehnen sie ab – und nun wollten sie auch gemeinsam die neue Ministerriege von Regierungschef Sébastien Lecornu zu Fall bringen – was vorerst vom Tisch ist.

Frankreich stünde in diesem Fall als eine der einstigen Lokomotiven der Europäischen Union still. Genau das können das Land und die EU zurzeit am wenigsten brauchen. Denn bei einer fortgesetzten Lähmung droht eine Schuldenkrise wie vor anderthalb Jahrzehnten mit Griechenland, nur in viel bedrohlicherem Ausmaß. Auch in anderen Fragen wird ein aktives Frankreich gebraucht – von der Wirtschaft über die europäische Verteidigung bis hin zum Nahost-Konflikt.

Wie findet das Land aus diesem Dilemma heraus? Scheitert Lecornu erneut, bleiben Macron nur zwei Schritte: eine erneute vorgezogene Parlamentswahl wie schon 2024 oder sein eigener Rücktritt.

Letzterer würde an den Mehrheitsverhältnissen im Parlament nichts ändern. Eine Parlamentswahl hingegen könnte für Klarheit sorgen, aber sicher ist das nicht. Sie könnte die Zersplitterung auch zementieren. Schon 2024 hatte sich Macron verkalkuliert, als er hoffte, mit der vorfristig angesetzten Wahl sein Mitte-Bündnis Ensemble Pour la République zu stärken. Inzwischen hängt es bei nur 15 Prozent Zustimmung.

Mit einem Sieg der rechtsnationalen Partei Rassemblement National wiederum geriete nach Italien das zweite der fünf wirtschaftsstärksten EU-Länder in den Griff von Rechtspopulisten – mit unklaren Auswirkungen auf ihre Rolle in der EU. Bei einem Sieg des linken Nouveau Front Populaire würde der Verschuldungshahn vermutlich unwiderruflich weiter aufgedreht – mit schlimmen Folgen für die Stabilität des Euro.

Für Deutschland tut sich nun eine Herausforderung auf und zugleich eine Chance. Kamen Impulse für die Entwicklung Europas in den Merkel-Jahren und der Ampel-Zeit zumeist aus Paris, könnte nun Friedrich Merz die Initiative ergreifen und als Taktgeber die ohnehin anvisierte Führungsrolle Deutschlands in Europa stärken.

Das dürfte allerdings leichter gesagt als getan sein. Denn Deutschland knabbert selbst an enormen Problemen herum, die alle Aufmerksamkeit des Kanzlers beanspruchen. Falls Frankreich tatsächlich ins Trudeln geriete, käme ein weiteres hinzu. Die Faszination des Abgrunds könnte sich dann schnell in ein Schreckensbild wandeln.