Matthias Blübaum hat als erst dritter Deutscher das Kandidatenturnier erreicht. Es geht um einen WM-Kampf gegen den Schachweltmeister.
Matthias Blübaum hat deutsche Schachgeschichte geschrieben.
Von Norbert Wallet
Wenn ein Norddeutscher und ein Ostwestfale mal so richtig vor Begeisterung vibrieren, geht das so: Der Norddeutsche zum Ostwestfalen: „Das war ja ganz okay.“ Der Ostwestfale zum Norddeutschen: „Jo, war okay.“
Das ist kein Scherz, sondern der wesentliche Inhalt der Textnachrichten, die am Montagabend zwischen Schachbundestrainer Jan Gustafsson (Hamburg) und seinem Schützling Matthias Blübaum (Lemgo) hin und her gingen. Blübaum hatte soeben im usbekischen Samarkand deutsche Schachgeschichte geschrieben. In dem dortigen Elite-Turnier schaffte der Deutsche mit einem zweiten Platz die Qualifikation für das Kandidatenturnier, in dem der Herausforderer für WM-Kampf gegen den indischen Weltmeister Gukesh ermittelt wird. In elf Runden blieb Blübaum ungeschlagen und besiegte unter anderem den Topgesetzten indischen Großmeister Praggnanandhaa und seinen ebenfalls hochgewetteten Landsmann Arjun Erigaisi.
Als erst dritter Deutscher
Der Erfolg ist ein historischer Meilenstein für das deutsche Schach. Blübaum ist nach Robert Hübner und dem DDR-Spitzenspieler Wolfgang Uhlmann der dritte Deutsche, der am traditionsreichen Kandidatenturnier teilnehmen kann. Sein Erfolg ist ein gewaltiger Paukenschlag, denn mit dem Durchmarsch Blübaums hatte schlichtweg niemand gerechnet. Er selbst auch nicht. In einem Podcast hatte er im Juli noch den Qualifikationsplatz als „absolut unrealistisch“ eingeschätzt.
Niemand konnte ihm da widersprechen. Der 28-jährige Mathematiker steht auf Platz 51 der Weltrangliste und stand in Samarkand nur an 32. Stelle der Setzliste, weit weg vom kleinen Kreis der üblichen Verdächtigen, wenn es um die Preisränge geht. Aber vielleicht hätte man das Wunder doch kommen sehen können. Blübaum hatte sich Anfang des Jahres bereits den Europameister-Titel gesichert. Und irgendwie ist es seltsam. Auch damals zeigte sich mancher Experte überrascht. Und das obwohl Blübaum den prestigeträchtigen Titel bereits zum zweiten Mal errang, schon 2022 hatte er den Kontinentaltitel gewonnen.
Ein ewig Unterschätzter
Wie talentiert der Lemgoer ist, zeigte sich früh. 2015 hatte er bei der U-20-WM die Bronzemedaille gewonnen. Blübaum – das ist ein ewig Unterschätzter. Zum geflügelten Wort wurde ein Kommentar des Großmeisters Arkadij Naiditsch, der vor vier Jahren in einem Stream ein harsches Urteil fällte: „Blübaum ist kein sehr starker Spieler.“ Blübaum hat das gelassen hingenommen und seinem eigenen Streaming-Kanal den Titel „Kein-sehr-starker Spieler“ gegeben.
Aber wie kommt dieses notorische Unterschätzen eigentlich? Der schlanke Schlacks ist kein Lautsprecher. Lange hat er gezögert, den Schritt zum Schachprofi zu machen, und erst sein Mathematik-Studium abgeschlossen. Sein Spiel-Stil wird ebenfalls dazu beitragen. Johnny Carlstedt, Chefredakteur des Magazins „Schach“, beschreibt diesen so: „Er spielt seinen Stiefel, überzieht nie, riskiert nie zu viel. Er ist einfach megasolide, aber auch hellwach, um zuzuschlagen, wenn der Gegner Chancen einräumt.“ Ostwestfalen-Schach, könnte man sagen. Nüchtern, aber tiefgründig.
Der letzte Trick im Köcher
Fast könnte man sagen, Blübaum sei in Samarkand in eine fremde Geschichte geschlüpft. Denn eigentlich sollte das Turnier die Erfolgsgeschichte des Vincent Keymer schreiben. Der 20-Jährige ist der klar stärkste deutsche Spieler, Nummer zehn der Weltrangliste. Tatsächlich hatte auch Keymer die Tabellenspitze stets im Blick. In der vorletzten Runde kam es zum Showdown der beiden Deutschen. Und es lief, wie es alle Experten erwartet hatten. Keymer baute kontinuierlich seinen Vorteil aus, landete in einem gewinnverheißenden Endspiel, eine Spezialität Keymers, der gut darin ist, seinen Vorteil geduldig zum Gewinn zu verdichten. Für Blübaum eine Qual, wie seine Körpersprache verriet. Er wand sich am Brett, schien sich innerlich zu beschimpfen für sein Spiel, mochte gar nicht mehr auf die trostlose Stellung schauen. Dann geschah das Wunder. Keymer übersah den letzten, den einzigen Trick, den Blübaum noch im Köcher hatte - Unentschieden!
Blübaum sagte nach der Partie: „Der Ausgang ist völlig lächerlich. Vincent hätte gewinnen sollen.“ Das Aufeinandertreffen der Deutschen entschied ihr Turnierschicksal. Blübaum reichte ein Remis in der Schlussrunde zur Qualifikation. Im Kandidatenturnier gilt Blübaum als krasser Außenseiter. Aber das kennt er ja schon . . .