Forscher der Universität Tübingen stellen die Annahme in Frage, dass eine rund 42.000 Jahre alte Schlüsselkultur durch Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa kam
Beispiele für Steinartefakte aus dem Ahmarien von Ksar Akil (a & b) und dem Protoaurignacien von Grotta di Fumane (c) sowie Grotta di Castelcivita (d).
Von Markus Brauer
Bei der Herstellung von Steinwerkzeugen gingen moderne Menschen vor rund 42.000 Jahren in Europa und im Nahen Osten unterschiedlich vor. Das hat eine vergleichende Analyse von Steinwerkzeugen aus Fundstätten in Italien und im Libanon ergeben.
Die Analyse wurde durchgeführt von Armando Falcucci von der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie im Fachbereich Geowissenschaften der Universität Tübingen und Steven Kuhn von der School of Anthropology der University of Arizona in Tucson.
Technologie durch eigene Innovationen entwickelt
Die beiden Forscher kommen zu dem Schluss, dass die Technologie zur Bearbeitung von Steinen in Europa durch eigene Innovationen entwickelt wurde und nicht durch einen Wissensimport von den aus dem Nahen Osten eingewanderten Menschen zu erklären ist. Ihre Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Journal of Human Evolution“ veröffentlicht worden.
Für die Auswanderung unserer Vorfahren, des Homo sapiens, aus Afrika spielte der Nahe Osten als bio-geografischer Korridor eine entscheidende Rolle. Jahrzehntelang nahm man in der Forschung an, dass viele technologische Innovationen durch die Einwanderung früher moderner Menschen aus dem Nahen Osten in Europa eingeführt wurden.
Protoaurignaciens- und Ahmarian-Kultur
Die rund 42.000 Jahre alte Kultur des Protoaurignaciens in Südeuropa wird daher allgemein als westliche Erweiterung der nahöstlichen Ahmarian-Kultur früher Homo-sapiens-Gruppen betrachtet.
Obwohl vielen Wissenschaftlern kulturelle Ähnlichkeiten zwischen den Steinwerkzeugen der Ahmarian- und der Protoaurignacien-Kultur auffielen, wurde bisher kein systematischer Vergleich der archäologischen Belege vorgenommen. Diese Lücke schließen Armando Falcucci und Steven Kuhn mit ihrer aktuellen Studie.
Tausende Steinwerkzeuge untersucht
Für die Ahmarian-Kultur untersuchten die Forscher Tausende von Steinwerkzeugen aus der am dichtesten an Europa liegenden archäologischen Fundstätte Ksar Akil nahe Beirut im Libanon. Die bearbeiteten Steine des Protoaurignaciens für den Vergleich stammten aus drei wichtigen Fundstätten im heutigen Italien:
der Grotta di Fumane nahe Verona im Nordosten
des Riparo Bombrini nahe Ventimiglia im Nordwesten
der Grotta di Castelcivita nahe Salerno im Süden.
„Oberflächlich betrachtet sahen die Steinwerkzeuge aus diesen verschiedenen Gebieten ähnlich aus. Aber wir wollten genauer wissen, wie sie hergestellt wurden“, sagt Kuhn.
„Beim Vergleich der Fundsammlungen konzentrierten wir uns vor allem auf die Steineinsätze zusammengesetzter Werkzeuge. Wir rekonstruierten ganz genau, wie die Feuersteinknollen geformt wurden, um gerade Klingen mit scharfen Kanten abzuschlagen“, ergänzt Falcucci.
Auffällige Unterschiede in der Herstellung
Die Analyse habe auffällige Unterschiede ergeben in der Art, wie die Werkzeugmacher des Ahmarian und des Protoaurignaciens vorgingen. In beiden Regionen seien die Steinwerkzeuge immer kleiner geworden, was die Entwicklung komplexer zusammengesetzter Arbeitsgeräte widerspiegele. Doch trotz dieses ähnlichen Trends stellten die Werkzeugmacher der verschiedenen Gebiete kleine Klingen auf unterschiedliche Weise her.
„Insgesamt betrachtet passen die Techniken der Ahmarian- und Post-Ahmarian-Kultur im Nahen Osten nicht mit denjenigen des Protoaurignaciens in Italien zusammen. Die Unterschiede bei der Herstellung von Abschlägen legen nahe, dass die europäischen Jäger und Sammler ihre Projektiltechnologie unabhängig voneinander entwickelten“, erläutert Falcucci.
Rekonstruktion der eigenen Geschichte
„Die allgemeine Annahme, dass die steinzeitlichen technologischen Innovationen in Europa durch Einwanderungswellen aus dem Nahen Osten eingeführt werden, muss neu bewertet werden“, erklärt Kuhn.
Zunehmend mehr biomolekulare und fossile Belege deuteten darauf hin, dass der Homo sapiens spätestens vor 60.000 Jahren begann, sich in Eurasien auszubreiten. Zur gleichen Zeit hätten dort lokale Populationen der Neandertaler und Denisova-Menschen gelebt, so dass es auch zur Durchmischung der Menschen gekommen sei, betont Falcucci.
„Unsere Studie trägt zu einer wachsenden Sammlung wissenschaftlicher Belege bei, welche die Ausbreitung der modernen Menschen in Eurasien als einen komplexen, nicht geradlinig verlaufenden Prozess erscheinen lässt.“