Lernen mit Abstand: Peter Hauck (links) und seine Teilnehmer vom Orientierungskurs sind wieder gestartet. Die Frauen und Männer wollten das Seminar schnellstmöglich fortsetzen. Foto: J. Fiedler
Von Christine Schick
MURRHARDT. In der Volkshochschule Murrhardt pendelt sich nach der langsamen Öffnung wie in anderen Bereichen so etwas wie ein neuer Alltag ein. Neben Online-Angeboten können mittlerweile auch eine Reihe von Präsenskursen wieder im Grabenschulhaus stattfinden – mit Abstand und entsprechenden Regeln.
Auch die Teilnehmer einer der beiden Orientierungskurse sind wieder gestartet, die der Lockdown mitten im Lernen und kurz vor der Prüfung getroffen hat. Kirstin Krack von der Volkshochschule und Dozent Peter Hauck erzählen, dass die Gruppe hoch motiviert ist und so schnell wie möglich wieder in den Unterricht kommen wollte. Der Eindruck bestätigt sich bei einem Besuch im Orientierungskurs der 13 Teilnehmer. Er ist Teil des Integrationskurses, bei dem es darum geht, die Sprache zu lernen und Orientierung zu geben, was zentrale gesellschaftliche Werte und politische Organisationsprinzipien in Deutschland anbelangt.
„Innerhalb Europas sind die Unterschiede nicht so riesig“, sagt Peter Hauck. Trotzdem könne es hilfreich sein, beispielsweise zu wissen, dass die Gewerkschaft ein Ansprechpartner ist, wenn man in der Firma Probleme hat. Das Thema, das in seinen Kursen in der Regel für intensive Diskussionen und Austausch sorgt, ist Religion. „Da fragen sich die Teilnehmer auch gegenseitig aus.“ Genauso thematisiert Peter Hauck Aspekte einer pluralistischen Gesellschaft wie die Homo-Ehe. Zu einem seiner typischen Zitate gehört dann der Satz des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Dass die Reaktion nicht immer begeistert ausfällt, hält ihn ebenso wenig davon ab, die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo zu thematisieren. Seine Botschaft: „Man muss das nicht gut finden, aber aushalten.“ Das aktuelle Thema „Aufgaben des Staates“ ist nach seinem Geschmack ein wenig trocken, was den Teilnehmern aber nicht anzumerken ist. Den Begriff Verfassungsorgane erklärt Peter Hauck so: „Organe sind etwas, das Sie vom Körper her kennen, und jetzt geht es darum, wie diese Organe des Staates funktionieren.“ Behandelt werden der Bundestag, der Bundesrat, die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht. Für die Frauen und Männer heißt es, zunächst in Kleingruppen erklärende Texte zu lesen und einige Fragen zu beantworten. Entweder sie bleiben auf Abstand, oder wenn sie etwas näher zusammenrücken, heißt es, Schutzmasken aufzuziehen.
Es ist ziemlich beeindruckend, wie sie die komplexe Materie später miteinander durchgehen. Man hat den Eindruck, dass die Frauen und Männer aus Moldawien, der Ukraine, Afghanistan, Marokko, der Türkei und Brasilien die Materie nicht nur aus Kursgründen und mit Blick auf die Prüfung durcharbeiten, sondern auch neugierig auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre Herkunftsländer und die deutsche Kultur sind. Manche sagen das auch ganz explizit in ihrer Vorstellungsrunde. Gleichzeitig wird deutlich, dass einige bereits den Schritt in die Arbeitswelt gemacht haben, andere ihn gezielt vorbereiten oder sich über eine Ausbildung weiterqualifizieren wollen. In der Gruppe sind auch Akademiker wie Juristinnen, Lehrerinnen oder ein Ingenieur, die meisten haben eine Ausbildung.
Peter Hauck lockert die Besprechung mit einem Bilderrätsel auf. Gleich nach dem ersten Satz, der das Bundesverfassungsgericht umschreibt, meldet sich die Gruppe, die das Organ beackert hat. „Es sind viele Richter in roten Roben zu sehen“, beschreibt ein Teilnehmer die Szenerie. Der Dozent erklärt, dass das Gericht angerufen werden kann, wenn die Frage im Raum steht, ob Grundrechte verletzt werden, und Gesetze auf ihre Richtigkeit überprüft. „Man könnte auch von einer Art Gesetzes-Tüv sprechen, also ähnlich wie beim Auto.“ Er berichtet von einem Urteil über die Sanktionen von Hartz-IV-Empfängern genauso wie von der Aufgabe, über Parteiverbote zu entscheiden. Bei der NPD habe das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass diese zwar verfassungsfeindlich, aber zu klein und unwichtig und ein Verbot deshalb als nicht notwendig angesehen worden sei. Seine Zuhörer staunen und Hauck sagt: „Man muss mit den Entscheidungen nicht einverstanden sein, man darf so ein Urteil auch kritisieren.“
Eine Teilnehmerin will wissen,
ob das Bundesverfassungsgericht arbeitsmäßig überlastet sei.
„Es gibt nur ein Bundesverfassungsgericht? Ist das nicht zu viel Arbeit?“, erkundigt sich eine Teilnehmerin. Der Dozent erklärt, dass es eine Art Arbeitsteilung gibt und Klagen auch abgewiesen werden können.
Dann heißt es, das Foto von Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau bei einem Empfang im Schloss Bellevue einzuordnen. Roter Teppich, Militärparade und das Ehepaar, das beim Repräsentieren entspannt, fast schon „glücklich wirkt“. „Vielleicht sind sie einfach auch Politikprofis“, sagt Hauck. Die Rolle des Bundespräsidenten als offizielles Staatsoberhaupt mit wenig Macht, aber der Aufgabe, Denkanstöße durch Reden zu geben oder bei Gesetzen eventuell aufzufordern, noch mal nachzubessern, wird besprochen. Wieder ist ein Stück des Orientierungskurspakets geschafft. „Er ist ein guter Lehrer“, sagt eine afghanische Teilnehmerin mit einem Lächeln. Bald steht die Prüfung an – zum Stoff des 100-Stunden-Kurses werden 33 Fragen gestellt, von denen die Teilnehmer 15 richtig beantworten müssen, um zu bestehen. „Sie heißt Leben in Deutschland und ist Voraussetzung für eine Einbürgerung“, sagt Kirstin Krack. Je nach Konstellation erhalten die Teilnehmer auch eine Unterstützung bei der Finanzierung der Integrationskurse – mal liegt die Entscheidung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, mal beim Jobcenter oder bei der Ausländerbehörde.
Damit die Kurse schnell wieder starten konnten, nutzt das VHS-Team den größten Raum im Grabenschulhaus – den Saal im ersten Stock, wo die Abstände gut eingehalten werden können. Auch die Betreuung für Mädchen und Jungen, die noch nicht in den Kindergarten gehen können, ist wieder angelaufen. Von ihr profitiert auch die Gruppe, die nun bei Peter Hauck in den Unterricht kommt. Ein Ehepaar hat aber seinen vierjährigen Knirps dabei, weil der Kindergartenbetrieb noch in Wechselschichten arbeitet.
Das VHS-Team weiß, dass es sich dieser Tage sehr flexibel, sozusagen Tag für Tag auf die sich verändernden Bedingungen einstellen muss. Ein Teil der Sprachkurse läuft ebenfalls wieder im Haus, ein Teil der Sportkurse kann in die städtischen Hallen verlegt werden und einige Fitnessangebote gibt es weiterhin als Online-Format. Vor dem Start konnten Integrationskursteilnehmern zwei Laptops aus der PC-Werkstatt für Online-Überbrückungsangebote zur Verfügung gestellt werden. Wer nun von zu Hause aus unterrichtet, braucht zumindest etwas Spielraum. Silke Müller berichtet, wie sie sich dafür ein kleines, aber feines Zimmer eingerichtet hat. Die Teilnehmer jedenfalls machen Team und Dozenten klar, dass sie Unterricht, Kurse und Angebote schätzen.