Notfallpatient Regenwald

Hat der Amazonas den Kipppunkt erreicht? Und was folgt dann?

Die Klimakrise nimmt schon jetzt dramatische Ausmaße an. Forscher warnen davor, dass selbstverstärkende Prozesse wie bei einem Dominoeffekt ausgelöst werden könnten. Für den südamerikanischen Amazonas könnte es vielleicht schon zu spät sein.

Hat der Amazonas den Kipppunkt erreicht? Und was folgt dann?

Tod auf Raten? Das Luftbild zeigt eine verbrannte und abgeholzte Fläche im Amazonas-Gebiet bei Porto Velho.

Von Markus Brauer/dpa

Vor zehn Jahren brach Jubel aus in Paris: Nach zähem Ringen hatte sich die Weltgemeinschaft darauf verständigt, die Klimakrise in den Griff bekommen zu wollen. Das Pariser Klimaabkommen war geboren. Inzwischen hat sich die Krise aber deutlich weiter zugespitzt. Man trifft sich in Brasilien am Rande des für das Weltklima so wichtigen Tropenwalds am Amazonas. Es steht viel auf dem Spiel.

Wie steht es um das Weltklima?

Laut aktueller UN-Prognose steuert die Welt mit ihrer aktuellen Klimapolitik auf 2,8 Grad Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts zu und reißt das international vereinbarte 1,5-Grad-Ziel schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts. Das würde heißen: mehr Stürme, mehr Überschwemmungen, mehr Dürren und so weiter – von drohenden Kipppunkten mit unumkehrbaren Folgen mal ganz abgesehen.

UN-Generalsekretär António Guterres betonte vor den Staatenlenkern aus aller Welt: „Die bittere Wahrheit ist, dass wir es nicht geschafft haben unter 1,5 Grad zu bleiben.“

Bislang vermochten es die Menschen trotz aller Konferenzen und Pläne nicht, das Ruder herumzureißen: Die weltweiten Emissionen erhöhen sich weiterhin. Im vergangenen Jahr stiegen sie der Weltwetterorganisation (WMO) sogar so drastisch wie seit Beginn der modernen Messungen 1957 nicht.

Wie soll am Amazonas die Kehrtwende gelingen?

Brasilien will die Symbolkraft des Amazonas nutzen, um der Welt die Dringlichkeit vor Augen zu führen. Nehme die Entwaldung durch Abholzung noch um einige Prozent zu, verwandle sich der Regenwald in eine Savanne, warnt der deutsche Greenpeace-Chef Martin Kaiser.

„Dann kippt das globale Klima. Ohne den Schutz des Amazonas gibt’s keinen Klimaschutz. Das ist eine so simple wie unbequeme wissenschaftliche Wahrheit.“ Große Waldgebiete wie der Amazonas sind natürliche Speicher für Treibhausgase, was in Bäumen und Pflanzen steckt, belastet nicht das Klima.

Wird der Regenwald zur Savanne?

Der Amazonas-Regenwald ist der größte seiner Art. Er ist als grüne Lunge der Erde für den Klimaschutz von zentraler Bedeutung. Unter dem ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro hatte die Vernichtung dieses unschätzbaren Naturjuwels jedoch dramatisch zugenommen.

Die Folgen des Klimawandels treffen das ohnehin gestresste Biotop mit voller Wucht. Normalerweise kann der tropische Regenwald ausbleibende Niederschläge und Dürren relativ gut kompensieren. Doch es gibt in einigen Regionen des Amazonas Probleme, die sehr beunruhigend sind.

 

 

Der Regenwald im Amazonasgebiet zeigt eine Tendenz zu langsamerer Erholung nach einer Dürre. Analysierte Daten wiesen regional auf eine kritische Verlangsamung hin, berichtet ein Forschungsteam im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS).

Critical slowing down of the Amazon forest after increased drought occurrencehttps://t.co/0Vu757I9Zr — Gary Ritchison (@GaryRitchison) May 20, 2024

Vernichtung der Waldfläche nimmt zu statt ab

Bei der kritischen Verlangsamung handelt es sich demnach um ein Phänomen, bei dem Natur-Systeme eine verlangsamte Erholung von kleinen Störungen zeigen, wenn sie sich einem Kipppunkt nähern.

Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert. Im Amazonasgebiet droht der Regenwald dann unaufhaltsam zu Savanne zu werden, wie Wissenschaftler befürchten.

 

 

 

 

 

 

„In den letzten 20 Jahren kam es im Amazonasgebiet zu drei Jahrhundert-Dürren. Ud es wird vorhergesagt, dass diese Extremereignisse aufgrund des Klimawandels häufiger und intensiver werden“, heißt es in der Studie.

Trend zu langsamerer Erholung

Das Team um Johanna Van Passel von der Katholischen Universität Löwen (Belgien) hatte Satellitenaufnahmen aus den Jahren 2001 bis 2019 sowie Daten aus einem Vegetationsindex kombiniert.

Für den Index wird der Umstand ausgenutzt, dass Pflanzen, die Fotosynthese betreiben, im nahen Infrarotbereich das Sonnenlicht sehr stark reflektieren. Auf diese Weise kann die Fotosynthese-Aktivität – und damit die Produktivität – von Pflanzen gemessen werden.

 

 

 

 

Der Auswertung zufolge hat die Intensität einer Dürre einen größeren Effekt als die Dauer oder die Häufigkeit. Der Trend zu langsamerer Erholung zeigte sich bei etwa 37 Prozent der untersuchten Fläche, im Süden und im Südosten besonders gravierend.

Die Menge der Niederschläge schwankt dort im Jahresverlauf deutlich stärker als im zentralen Amazonasgebiet. Die Waldregionen müssen also ohnehin mit gelegentlicher Trockenheit zurechtkommen. „Da sie bereits an ihren physiologischen Grenzen arbeiten, sind sie möglicherweise anfälliger für Veränderungen als in den westlichen Regionen des Beckens“, schreiben die Forscher.

Jahrhundert-Dürre trocknet Amazonasgebiet aus

Dürre sorgt auf zweierlei Wegen für das Absterben von Pflanzen: Beim sogenannten Hydraulikausfall kommt es in Wasser leitenden Gefäßen infolge des Wassermangels zu Verengungen und Verstopfungen. Zudem schließen Pflanzen bei Trockenheit ihre Spaltöffnungen, damit weniger Wasser verdunstet.

 

 

 

 

Dadurch kann weniger Kohlendioxid aus der Umgebungsluft in die Pflanze gelangen, die das Gas für die Fotosynthese benötigt. Sie verbraucht dann mehr Energie als sie erzeugt und stirbt allmählich ab. Der Hydraulikausfall ist den Forschern zufolge besonders bei intensiven Dürren bedeutsam, der CO2-Mangel eher bei lang andauernden Dürren.

Natürlicher Lebensrhythmus gerät aus dem Takt

Der größte Regenwald der Erde hat globale Bedeutung: Er beherbergt eine einzigartige Artenvielfalt, beeinflusst die Niederschläge in ganz Südamerika und sein Schwinden setzt Treibhausgase frei, die zur Erderwärmung beitragen.

Lange zog der Amazonaswald Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Doch für die Zeit von 2010 bis 2018 wurde bereits gezeigt, dass er mehr freisetzte als er aufnahm. Gründe seien die Waldvernichtung und die stärker ausgeprägte Trockenzeit, hatte ein Team des brasilianischen Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE) berichtet.