Im Zeichen des Unterwegsseins

Das Pilgern – im Begriff steckt das lateinische „per ager“, also „über den Acker“ – ist ein europäisches Phänomen. Die Walterichstadt liegt am Jakobsweg und hat eine lange Tradition als Pilgerwegsort. Die Gasthaushochzeit um das Jahr 1800 ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen.

Im Zeichen des Unterwegsseins

...mit Kontaktdaten für Fußreisende, die noch ein Quartier suchen. Foto: Karin de la Roi-Frey

Von Karin de la Roi-Frey

Murrhardt. Fremde mit einem Messer am Gürtel, einem Löffel am Hut und Trinkwasser in einem ausgehöhlten Kürbis, vielleicht auch in einer Tierblase, waren über Jahrhunderte nichts Ungewöhnliches in Murrhardt. „Per ager“, also über den Acker waren die „Pilger“ oft unterwegs und erhielten so ihre Bezeichnung. Gute „Ackerläufer“ schafften im Schnitt pro Tag 20 Kilometer. Vornehme und Reiche ließen sich von Pferden oder Maultieren dem Pilgerziel entgegentragen, Gebrechliche oder Kranke mit einem entsprechend gefüllten Geldsäckel ließen sich auch fahren oder sogar in einer komfortablen Sänfte zum Ziel bringen.

Das seit einigen Jahren wiederentdeckte Pilgern war schon davor über Jahrhunderte eine gesamteuropäische Erscheinung. So machten sich selbst Menschen aus Skandinavien auf den Weg nach Santiago de Compostela in Spanien. Das weiß man weniger aus den ohnehin spärlichen Berichten von Pilgerfahrten als von den dorther mitgebrachten Jakobsmuscheln. Ein spanischer Pilger allerdings, der sich im Sommer 2022 seinen Stempel im Murrhardter Carl-Schweizer-Museum holte, hat seinen Weg am eigentlichen Endpunkt begonnen, nämlich in Santiago de Compostela. Das Ziel seiner Wallfahrt heißt Riga. Im Jahr holen sich im Carl-Schweizer-Museum zirka zehn bis 15 Pilger einen Stempel, in der Murrhardter Tourist-Info sind es wohl drei- bis viermal so viele, schätzt man im Carl-Schweizer-Museum und misst dem Jakobsweg eine ähnliche Bedeutung bei wie dem Limesweg.

Die Jakobsmuschel verkörpert

und verbindet mehrere Symbole

Aufmerksame sehen die gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund in Murrhardt an vielen Stellen, als Wegweiser oder auch auf dem Hinweisschild für Übernachtungsmöglichkeiten vor der Stadtkirche. Das Zeichen der Santiagopilger weist mit seinen gebündelten Strahlen auf das Ziel des Pilgerwegs hin – Santiago de Compostela im Osten Spaniens. Gewidmet ist die Muschel dem heiligen Jakobus (44 nach Christus hingerichtet), über den Legenden von wundersam geretteten Menschen erzählen. Sein Grab soll sich unter der Kathedrale von Santiago de Compostela befinden. Über eine feine Symbolik verfügt diese Muschel, die eine heilende Wirkung haben und ihren Besitzern Glück bringen soll. Sie kann sich durch Auf- und Zuklappen der Schale schwimmend fortbewegen und ist doch zugleich ein in sich gekehrtes Wesen, wie viele Pilger, die nachdenkend in sich versunken ihrem Ziel entgegensteuern. Die Jakobsmuschel kann man auf dem Weg an vielen Orten oder Rastplätzen kaufen. Für viele aber ist es ein weiteres unbedingtes Ziel, sie am doch einige Kilometer von Santiago de Compostela entfernten Kap Finisterre selbst im Sand aufzusammeln. Manche sprechen nicht nur in heutigen Zeiten, sondern auch in Bezug auf die Jahrhunderte davor von „Pilgertourismus“. Wer sich einmal gefragt hat, warum eigentlich dieses einst doch sehr kleine Murrhardt bei zirka 800 Einwohnern um das Jahr 1800 tatsächlich 32 (!) Gasthäuser hatte, ist der Antwort auf der Spur. Nein, die Einheimischen verbrachten ihre Tage nicht im Wirtshaus. Dazu hatte man viel zu viel „G’schäft“ und zu wenig Geld und den guten Ruf galt es auch zu bewahren. Gasthäuser wie der „Ochsen“ (Attribut des Evangelisten Lukas), „Engel“ (Attribut des Evangelisten Matthäus) oder der „Löwen“ (Attribut des Evangelisten Markus) erhielten ihre Namen nach den Tierzeichen der Evangelisten. Auch das „Lamm“ (Symbol des Lamm Gottes), der „Hirsch“ (Christussymbol), der „Stern“ (Heilssymbol Christi), die „Rose“ und die „Krone“ (Mariensymbole) trugen und tragen Namen mit Verbindung zu Glaube und Wallfahrt.

Wer es sich irgendwie leisten konnte, übernachtete in einem dieser Murrhardter Wirtshäuser, denn dort ließ sich Neues erfahren. Händler und Kaufleute brachten Nachrichten mit, hatten von Pilgern benötigte Dinge im Vorrat und zeigten sich für eine gute Geschichte oder den Transport eines Briefes in den nächsten Ort vielleicht auch spendabel. Was machte es da schon, wenn man sein Bett mit noch zwei anderen Pilgern teilen musste?

Auch Drucker, Buchbinder für die schon arg in Mitleidenschaft gezogenen Bibeln und Gebetsbücher sowie Strumpfwirker und Schuhmacher, die die Wanderschuhe mit den oft im Beutel mitgebrachten Sohlen neu ausstatteten, hatten in Murrhardt viel zu tun und waren nach Auskunft des Carl-Schweizer-Museums überproportional vertreten. Sei es aus Armut oder als Buße, nicht wenige Pilger waren barfuß unterwegs und mussten sich wegen ihres Schuhwerks keine Gedanken machen.

Die Kleidung und Ausrüstung

der Pilger sind wohldurchdacht

Und trotzdem gab es viel zu bedenken, bevor man sich auf den Weg machen konnte. Geld wurde im Gürtel oder zwischen den Schuhsohlen versteckt, ein langer Mantel schützte vor Regen und Kälte. Nachts diente er als Decke, wenn das Nachtlager sich unter einem Felsvorsprung, in einer Höhle, ja in einem mit viel Glück noch etwas warmen Backhaus befand. Ein breitkrempiger Hut schützte gegen die Sonne und sorgte dafür, dass das Regenwasser nicht in den Nacken lief. Ein Wanderstab bot Halt, diente zum Überspringen von schmaleren Gewässerläufen und konnte auch bei der Abwehr von wilden Tieren sehr nützlich sein. Eine Szene des Sebaldus-Altars im Münster von Schwäbisch Gmünd zeigt, dass er auch bei Angriffen von Räubern und Wegelagerern helfen konnte.

Im Zeichen des Unterwegsseins

An der Stadtkirche Murrhardt werden Pilger mit einem in einen Stein (vorne neben dem Buchsbäumchen) eingelassenen Schild begrüßt... Foto: Christine Schick