Zulieferbetriebe vor dem Aus, Stellenabbau und Gewinnwarnungen bei den Herstellern. Viele sehen die Autoregion Stuttgart im freien Fall. Zu Recht?
Die Krisen in der Autoindustrie haben in der US-Stadt Detroit tiefe Spuren hinterlassen.
Von Peter Stolterfoht
Ein Mann steht in Arbeitsmontur in der Kälte und bläst sich seinen Atem in die gefalteten Hände. Mehr Wärme gibt das Feuer, das in einer Blechtonne lodert. Im Hintergrund ist durch den Rauch die Ruine einer Fabrik zu sehen, in der es keine Arbeit mehr für ihn gibt. Das ist das Bild, das man hierzulande von der amerikanischen Autokrise hat. Und so soll es bald in Stuttgart aussehen? Das hält mittlerweile sogar die sonst so unaufgeregte „Neue Zürcher Zeitung“(NZZ) für möglich, die alarmiert fragt, „ob wohl die reiche Region Stuttgart zu einem deutschen Detroit verkommt?“
Dieser Frage kann man sich musikalisch nähern. Detroit ist nämlich das beste Beispiel dafür, dass es manchen Städten sogar anzuhören ist, wie es ihnen geht. Den Soundtrack zu Boom und Lebenslust der Metropole im US-Bundesstaat Michigan lieferte in den 60er-Jahren das örtliche Motown-Plattenlabel mit dem Soulpop von Diana Ross und den Supremes. Die erste größere Krise der Stadt in den Siebzigern vertonte der Detroiter Düster-Rocker Alice Cooper. Niedergang, Verfall und ausufernde Kriminalität seiner Heimatstadt von Mitte der Neunziger an macht der Rapper Eminem zu seinem großen Thema. Dabei ist es immer ist die Autoindustrie mit den drei großen Herstellern Ford, General Motors und Chrysler, die in Detroit den Takt vorgibt.
Die Einwohnerzahl von Detroit ist auf ein Drittel geschrumpft
1,8 Millionen Einwohner hatte Detroit in seinen großen Zeiten, heute sind es gerade einmal noch etwa 620 000 – ziemlich genau so viele wie zurzeit in Deutschlands wichtiger Autostadt leben. Und weil Stuttgart gerade die größte Branchenkrise erlebt, geht der Blick nach Detroit mit seiner heruntergehungerten Automobilwirtschaft. Dorthin also, wo man schmerzvoll erfahren hat, was passiert, wenn man von technischen Veränderungen überrascht und anderswo billiger produziert wird.
Das Auto hat Detroit reich gemacht, aber in der Folge auch wieder arm – und verlassen. Weil die Menschen der Arbeit hinterherziehen, wurde die City der US-Metropole zur Geisterstadt. Die Grenze bildet die 8 Mile Road, es gilt, sie in düsteren Zeiten hinter sich zu lassen. Wer es nicht schafft, ist verloren, rappt Eminem und stellt dies auch als Schauspieler im Film „8 Mile“ eindrucksvoll dar.
Der City Ring in Stuttgart ist noch lange nicht die 8 Mile Road in Detroit. Ähnlichkeiten gibt es trotzdem. Knapp 250 000 Arbeitsplätze hängen in der Region Stuttgart an der Autoindustrie. Zu Detroits besten Zeiten waren es dort etwa 350 000 Menschen, die bei den Herstellern beschäftigt waren.
Realistischen Prognosen zufolge werden in Folge der Transformation rund um Stuttgart etwa 65 000 Jobs bis zum Ende des Jahres 2030 wegfallen. Dieser Stellenabbau wird bei den großen Konzernen Mercedes, Porsche, Bosch und Mahle in diesem Zeitraum in der Regel freiwillig und sozialverträglich vonstatten gehen, weil die Belegschaft bis dahin durch Jobsicherungsprogramme vor betriebsbedingten Kündigungen weitgehend geschützt sind.
Die Zeiten dürfen bald härter werden
Doch mit den Betriebsvereinbarungen enden in den nächsten Jahren auch die lukrativen Abfindungsrunden. Die Zeiten dürften danach deutlich härter werden, wenn Wirtschaft und Politik keine Antworten auf existenzielle Fragen der Branche finden. Dann wird das Stuttgarter Lebensgefühl ganz sicher nicht mehr musikalisch wie seit langem von den Fantastischen Vier wiedergegeben, sondern von weniger zart besaiteten Zeitgenossen.
Dennoch bleibt die Frage, ob die Entwicklung Detroits von der Hochburg des Automobils zu dessen Ruine tatsächlich auf Stuttgart übertragbar ist? Ja, so lautet die Antwort des Berliner Soziologen Andreas Knie, der den Untergang der deutschen Autoindustrie voraussagt. Knie nennt allerdings nicht Stuttgart als das neue Detroit, sondern Wolfsburg und meint stattdessen: „Schwaben wird das neue Ruhrgebiet.“ Was allerdings beunruhigend genug klingt, wenn man sieht, wie schwer sich die dortigen Städte immer noch damit tun, nach dem Ende der Bergbauindustrie auf einen grünen Zweig zu kommen.
In Zeiten solcher Krisen haben Untergangsprognosen, wie jene von Professor Knie, Hochkonjunktur. Die These des Mobilitätsforscher lautet: Deutschland sei einfach nicht bereit, sich auf das Elektro-Auto einzulassen. Und das werde sich brutal rächen.
Etwas differenzierter nähert sich Jürgen Dispan vom Stuttgarter IMU-Institut für arbeitsorientierte Forschung und Beratung dem Thema. „Detroit ist im Moment ein Warnsignal für die Region“, sagt der Wissenschaftler und erklärt auch, warum der direkte Vergleich zwischen Motor City und Benz Town hinke: „Detroit war durch eine einseitige Struktur geprägt, während die Region Stuttgart einen kompletten Wertschöpfungscluster rund ums Automobil hat, zu dem auch viele Zulieferbetriebe, Entwicklungsdienstleister und Maschinenbauer gehören.“
Jürgen Dispan spricht in diesem Zusammenhang von einer „Problemlöserregion“, die nun aber auch in dieser Tradition handeln müsse. Dazu gehöre es, Produktion und Entwicklung sowie deren Fachleute nicht auseinanderzureißen, sondern wieder enger miteinander zu verzahnen. Aber eines sei auch klar: die Uhr könne man nicht mehr zurückdrehen, das Software-definierte E-Auto komme in jedem Fall. Die Frage sei nur: was man aus dieser Gewissheit macht und wie man Strategien zur proaktiven Gestaltung des Technologie- und Strukturwandels auf den Weg bringt?
Viel Zeit zum Gegensteuern bleibt nach Meinung von Stefan Bratzel nicht mehr, um nicht in die Detroit-Spur zu geraten „Wenn wir es nicht schaffen, innovativer zu werden, können wir auch nicht mehr teuer sein“, sagt der Direktor vom Center of Automotive Management (CMA) in Bergisch Gladbach. Zur unangenehmen Wahrheit gehöre nämlich auch, dass die Arbeitskosten zu hoch und die Arbeitszeiten zu gering seien. Was einst auch ein Problem der Autoindustrie in Detroit gewesen wäre.
Die Angst der Bürgermeister
Den Vorwurf, unflexibel und zu langsam zu sein, mussten sich einst auch die Detroiter Automanager machen lassen. Trotz der Ölkrise mit ihrem Beginn 1973 setzen sie weiter auf große Benzinschlucker. Das nutzten damals die japanischer Hersteller, allen voran Toyota, um günstigere und sparsamere Fahrzeuge auf den US-Markt zu bringen. Das verringerte den Anteil einheimischer Fahrzeuge bei den Neuzulassungen kurzerhand von 70 auf 50 Prozent. Und mit Detroit ging es kontinuierlich bergab. 2008 erreichte die Arbeitslosenquote in Detroit mit 25 Prozent einen Höchststand. Die Finanzkrise verschärfte die Situation weiter, sodass die Stadt 2013 in die Insolvenz gehen musste. Ein Schuldenberg in Höhe von 19 Milliarden Dollar bedeutete die bisher größte Kommunalinsolvenz der US-Geschichte.
Kein Wunder, dass sich die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der deutschen Autostädte Sorgen machen. Vornedran Stuttgarts OB Frank Nopper, der im Namen der betroffenen Kommunen staatliche Unterstützung für die Autoindustrie einfordert.
Detroiter Teufelskreis
Da schwingt natürlich die Angst vor dem Detroiter Teufelskreis mit. Mit gestrichenen Stellen geht Kaufkraft verloren. Eine Stadtflucht setzt ein. Geschäfte machen dicht, der Leerstand in der Innenstadt führt schlimmstenfalls zu ihrer Verelendung. Auch weil die Kommune durch fehlende Steuereinnahmen der großen Unternehmen dem nichts mehr entgegensetzen könnte. Gleichzeitig brechen wichtige Fördergelder aus der Wirtschaft für kulturelle und soziale Einrichtungen weg.
Das hat Detroit alles hinter sich, langsam erholt sich die Stadt, siedeln sich neue Industrien an, Startups werden gegründet. Die geschrumpfte Autoindustrie arbeitet wieder rentabel. Detroit gilt gerade als kreativ und aufregend.
Und so wirkt die Wirtschaftspolitik von Donald Trump vielen in Detroit gerade wie ein Rückfall in alte Zeiten, wenn durch eine restriktive Zollpolitik die Schornsteine der Stadt wieder qualmen und Verbrenner-Autos wie vor 50 Jahren gebaut werden sollen.