Kommentar: Ein geschickter Schachzug Selenskyjs
Von Guido Bohsem
Wahltage sind die Feiertage der Demokratie. Der Souverän spricht und entscheidet über den Kurs des Landes. Wenn also die Bürger eines Staates eine neue Regierung wählen oder ein neues Oberhaupt, muss das würdig und korrekt ablaufen. Dass das in der Ukraine nicht ohne Einschränkungen gelingen kann, ist offenkundig. Was ist mit den Wählern in den russisch besetzten Gebieten? Was ist mit den Wählern in den umkämpften Frontstädten? Bleiben die außen vor oder werden sie einbezogen? Wie verhindert man, dass die russische Armee gezielt Wahllokale ins Visier nimmt?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß sehr genau, dass die Verfassung ihm das Recht gibt, Wahlen in Kriegszeiten zu verschieben, und er weiß auch, welche Probleme es seinem Land derzeit bereiten würde, sie trotzdem abzuhalten. Man kann seine Ankündigung also getrost als taktisches Manöver deuten, mit dem er den Ball an US-Präsident Donald Trump zurückspielt, der die Forderung nach Neuwahlen beständig wiederholt. Das wird Selenskyj und seinem Land eine Atempause verschaffen, mehr aber auch nicht. Tatsächlich wären Neuwahlen nach den Korruptionsvorwürfen dringend nötig. Würde Selenskyj sie gewinnen, hätte er ein unbestreitbares Mandat, sein Land in die nächste Phase des Krieges zu führen. Er könnte so die Ukrainer besser auf die schmerzhaften Zugeständnisse vorbereiten, die ein Friedensschluss bringen wird.