Alice Weidel tritt in diesem Wahlkampf nur selten auf – und wirkt doch allgegenwärtig. Trotzdem ist sie schwer zu greifen. Wer ist die Frau, die die AfD im Wahlkampf führt?
Bei ihren Auftritten lässt sich Alice Weidel feiern wie ein Popstar.
Von Rebekka Wiese
Ihr Hemdkragen ist aufgerichtet, das Einstecktuch in der Brusttasche gefaltet. Alice Weidel steht auf der Bühne, ihr Publikum davor. Es sind Menschen, die Baseballkappen tragen und Deutschlandflaggen schwenken, sie pfeifen, klatschen, toben. Ein Mann schreit: „Alice, ich will ein Kind von dir!“ Es folgt Männerlachen. Es ist der Wahlkampfauftakt von Alice Weidel, ein Januarsamstag in Halle. Und während Weidel versucht, das Wort zu ergreifen, während sie abbrechen muss, weil es so laut „Alice für Deutschland“ aus der Menge tönt, da kann man sich schon mal fragen: Wer ist diese Frau? Und was macht sie da?
Die AfD ist derzeit zweitstärkste Kraft
Alice Weidel ist eine der bekanntesten Politikerinnen des Landes. Sie ist Parteivorsitzende der in weiten Teilen rechtsextremen AfD. Und sie ist deren Kanzlerkandidatin – auch wenn aktuell als ausgeschlossen gilt, dass Weidel am 23. Februar zur Regierungschefin gewählt wird, da keine andere Partei mit der AfD koalieren würde. Aktuell steht die AfD bei gut 20 Prozent in Umfragen, an zweiter Stelle hinter der CDU. Vor drei Jahren war es noch halb so viel. Hoch ging es für sie ab dem Moment, in dem Weidel gemeinsam mit Tino Chrupalla die Führung übernahm.
Begriffe aus der rechtsextremen Szene
Die AfD ist in dieser Zeit nicht nur erfolgreicher, sondern auch noch radikaler geworden. Begriffe aus der rechtsextremen Szene sind in ihr Vokabular eingewandert, die Grenzen des Sagbaren eingerissen. Remigration fordern, Hitler historisch völlig verdreht als „links“ einordnen, das Ende des Nationalsozialismus als „Niederlage des eigenen Landes“ bezeichnen? Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Weidel hat das alles gesagt.
Obwohl die AfD nur zu wenigen Wahlkampfveranstaltungen einlädt, wirkt Weidel in diesen Wochen überpräsent. Sie tritt in Talkshows auf, in Nachrichtensendungen, im Bundestag, sie ist allgegenwärtig. Und doch kaum zu greifen. Wie passen sie zusammen, diese sehr kontrollierte Frau und ihr tobendes Publikum? Das Einstecktuch und die Baseballcaps, Weidels hoher Hemdkragen und das Bier, das hier schon seit mittags fließt?
Weidels Leben voller Widersprüche
Und dann auch noch: ihre Frau, die bei diesem Auftritt in der ersten Reihe sitzt, mit der sie in der Schweiz lebt und zwei Kinder hat, die selbst in Sri Lanka geboren ist – und ihre Partei, die in ihrem Wahlprogramm betont, dass eine Familie für sie aus „Vater, Mutter und Kindern“ bestehe? Alice Weidel führt ein Leben voller Widersprüche. Doch es hat ihr bisher nicht geschadet. Im Gegenteil sogar: Der Widerspruch ist bei Weidel zur Methode geworden.
Weidel trat der AfD in ihrem Gründungsjahr bei, die Partei galt 2013 noch als Ansammlung unzufriedener Professoren und Eurokritiker. Weidel, 1979 geboren und bürgerlich aufgewachsen, wie sie aussieht, wirkte auf den ersten Blick wie eine typische Stellvertreterin dieser Ära. Sie ist promovierte Volkswirtin, verbrachte lange Zeit in China, arbeitete in der Finanzbranche. Nun steht sie an der Spitze einer Partei, die der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstuft.
Die Gunst des radikalen Höcke-Lagers
Lange galt Weidel als das bürgerliche Gesicht der AfD. Vor einigen Jahren zählte sie noch zu denjenigen, die den Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus aus der Partei ausschließen wollten. Doch wer in der AfD Erfolg haben will, ist auf die Gunst des radikalen Höcke-Lagers angewiesen – oder muss seinen Posten räumen. Weidel entschied sich offenbar irgendwann, dass ihr das nicht passieren würde. Zum Parteiausschluss kam es nicht. Inzwischen tritt sie sogar öffentlich mit Höcke auf.
Weidel mag bürgerlich aussehen, ihre Überzeugungen sind es nicht. Man kann sich höchstens fragen, wie neu das ist. Ob sie sich aus Opportunismus angenähert hat. Oder doch aus einer Haltung, die man ihr lange nicht zutrauen wollte.
Eine brisante Mail von 2013
2017 veröffentlichte die „Welt am Sonntag“ eine Mail, die Weidel im Februar 2013 geschrieben haben soll. „Der Grund, warum wir von kulturfremden Voelkern wie Arabern, Sinti und Roma etc ueberschwemmt werden, ist die systematische Zerstoerung der buergerlichen Gesellschaft als moegliches Gegengewicht von Verfassungsfeinden, von denen wir regiert werden“, heißt es darin unter anderem. Das ist nicht bürgerlich, es ist verschwörungsideologisch und völkisch.
Auftritt bei Caren Miosga
Wenn Journalisten ihr unangenehme Fragen stellen, reagiert Weidel oft überheblich. Letztens saß sie in der Talkshow von Caren Miosga, in weißer Bluse, mit Perlenkette und einem Paar sehr angesagten Sneakers an den Füßen. Miosga konfrontierte Weidel mit extremistischen Parteivertretern, bei denen die Parteispitze daran gescheitert war, sie auszuschließen. Und Weidel? Flüchtete sich in einen Exkurs darüber, was Extremismus denn überhaupt sein solle. Immer wieder verdrehte sie die Augen, seufzte, schüttelte den Kopf.
Ähnlich konnte man sie auch am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Klartext“ erleben, wo Zuschauer die Kanzlerkandidaten befragten. Darunter war der Leiter eines Pflegeheims, der ihr vorwarf, dass die AfD sich in ihrem Wahlprogramm nicht genug mit den Problemen seiner Branche und besonders dem Fachkräftemangel beschäftigte.
Weidels Gesicht blieb regungslos, während sie dem Mann zuhörte. Dann sagte sie: „Ich habe den Eindruck, dass Sie mir nicht zugehört haben. Dass Sie unser Wahlprogramm nicht gelesen haben und dass Sie das, was Sie gerade sagen, auswendig gelernt haben.“
Es gibt aber auch eine andere Alice Weidel. Auf der Kurzvideo-Plattform Tiktok zum Beispiel, wo sie extrem erfolgreich ist. Im vergangenen Jahr ging ein Video viral, das zeigte, wie Weidel mit ihrer Partnerin im Auto zu einem Lied der Popsängerin Kylie Minogue tanzte. Sympathisch und modern sah das aus. Wenn die AfD von so einer Frau geführt wird – kann die Partei dann wirklich so schlimm sein?
Und auch bei ihrem Auftritt am Donnerstagabend gab es Momente, in denen sie sich weich zeigte. Zum Beispiel, als sie einer abgelehnten Asylbewerberin aus Georgien, die hier als Altenpflegerin arbeitet, zu ihren tollen Deutschkenntnissen gratulierte und betonte, dass diese Frau hier herzlich willkommen sei. Schaut man sich das an, ist schwer vorstellbar, dass Weidels Partei in ihrem Wahlprogramm fordert, das Bleiberecht für genau solche Menschen abzuschaffen. Oder gar, dass Weidel selbst in ihren Reden gegen Zugewanderte und Muslime hetzt.
Normale Bürger und Neonazis
Wie passt das zusammen? Erstaunlich gut. Zu den Strategien der AfD gehört es schon lange, mehrdeutige Begriffe zu verwenden, die man wahlweise als harmlos oder radikal deuten kann. So spricht sie zwei unterschiedliche Zielgruppen gleichzeitig an: die Radikalen und die Bürgerlichen.
Weidel ist die Verkörperung dieser Strategie. Sie wirkt selbst wie ein Kippbild, das je nach Wahrnehmung zwei ganz verschiedene Motive zeigt. Der Trugschluss liegt darin, zu glauben, dass das eine das andere ausschließt.
Als ihr Auftritt in Halle endet, steht Alice Weidel mit einem Blumenstrauß auf der Bühne, Tino Chrupalla an ihrer Seite, um sie herum weitere Parteifunktionäre. Das Publikum jubelt und pfeift, es will Weidel nicht gehen lassen. Sie lächelt. Und sagt dann etwas zu Chrupalla, was man nur zufällig hören kann, weil sie zu nah am Mikrofon steht. „Komm, wir gehen jetzt mal hier runter.“ Ihr Tonfall passt nicht zu dem Lächeln, sie klingt harsch, etwas genervt. Sie reckt den Blumenstrauß in die Höhe und winkt ein letztes Mal. Sie geht ab, ohne sich umzuschauen.