Ermittler durchsuchen Büro und Privatwohnung des Stabschefs von Präsident Selenskyj, Andrij Jermak: Hinweise auf die Rolle des Präsidentenberaters in der Korruptionsaffäre gesucht.
Andrij Jermak (li.) ist Jurist, Jurist, Filmproduzent, Leiter des Büros und rechte Hand von Präsident Wolodymyr Selenskyjs (re.). Beim 54-jährigen durchsuchten jetzt Korruptionsermittler.
Von Franz Feyder
Sowohl Präsidentenberater Jermak als auch der Ex-Verteidigungsminister Rustem Umerov sind derzeit für die Ermittler Zeugen im Korruptionsverfahren rund um den staatlichen Atomkonzern Energoatom.
Um was geht es bei der Korruptionsaffäre in der Ukraine?
Es geht um ein System, das mindestens acht Angeschuldigte um den Atomkonzern Energoatom spätestens seit 2019 aufgebaut haben sollen. Von ihnen sind fünf in Untersuchungshaft. Den Männern wird vorgeworfen, bei der Vergabe von durch Steuergeld finanzierten Aufträgen Energoatoms eine „Provision“ in Höhe von zehn bis 15 Prozent der Auftragssumme von den Auftragnehmern gefordert haben: Energoatom soll die volle Auftragssumme ausgezahlt haben, die Auftragnehmer sollen dann den Abschlag an die Beschuldigten zurückgezahlt haben. Die Aufträge dienten vor allem dem Schutz von Atomanlagen des Landes vor russischen Angriffen. Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) geht aktuell von einem Schaden von 100 Millionen Euro aus.
Seit wann haben die Ermittler die Beschuldigten im Blick?
Das NABU und die auf Korruptionsfälle spezialisierte Staatsanwaltschaft SAPO ermitteln seit Herbst 2024 in der Operation „Midas“ gegen den mutmaßlichen Ring. „Midas“ bezieht sich auf König Midas aus der griechischen Mythologie, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte. Erste Hinweise auf die Gruppe recherchierten und veröffentlichten im Frühjahr mehrere ukrainische Journalisten. 2023 kritisierten sie die zunehmende Intransparenz bei Ausschreibungen des Energieministeriums.
Wer sind die wichtigsten Beschuldigten?
Als mutmaßlicher Kopf des Rings wurde Timur Minditsch (interner Deckname „Karlsson“) identifiziert. Er ist Miteigentümer der Filmproduktionsfirma „Kvartal 95“, bei der Wolodymyr Selenskyj vor seiner Wahl zum Präsidenten 2019 als Schauspieler angestellt war. Der 46-jährige wurde offenbar vor seiner bevorstehenden Festnahme gewarnt und floh. Dmytro Basow („Tenor“) war Direktor für Sicherheit bei Energoatom und damit verantwortlich für den physischen Schutz der Atomanlagen. Der frühere Vizepremierminister Oleksiy Chernyshov („Che Guevara“) soll politisch den Weg der Gruppe bereitet haben. Ex-Justiz-und Energieminister Herman Haluschtschenko („Professor“) soll zunächst direkt an den Kick-Back-Geschäften beteiligt gewesen sein, dann als Justizminister die Gruppe mit Informationen gefüttert haben. Er betont seine Unschuld.
Wie ist Präsident Wolodymyr Selenskyj in die Affäre verwickelt?
Selenskyj ist bis heute in dem Verfahren nicht beschuldigt worden. Ob die NABU gegen ihn ermittelt, ist nicht bekannt. Mit den jetzt bekannten Beschuldigten brach der Präsident – teilweise seit Jahren. So mit Minditsch im Sommer 2020. Als am 12. November das NABU mit einer Pressemitteilung die Ermittlungen öffentlich machte, entließ Selenskyj Justizminister Haluschtschenko sofort. Seine – in das Verfahren nicht verwickelte – Energieministerin Switlana Hryntschuk trat zurück. Vorzuwerfen ist Selenskyj, dass er trotz der kritischen Zeitungsartikel seit 2022 an Haluschtschenko festhielt.
Warum durchsuchte das NABU am 28. November bei Selenkyjs Stabschef Jermak?
Jermak ist für das NABU zurzeit noch Zeuge in dem Verfahren. Bei der Durchsuchung wollten die Ermittler vor allem Dokumente auffinden, die primär Haluschtschenko belasten und mögliche Verbindungen im Kabinett aufhellen. Zudem, so heißt es in Kiew, stehe Jermak im Verdacht, er habe angeordnet, Druck auf NABU-Ermittler auszuüben. Er soll unter dem Decknamen für die Korrupten aktiv gewesen sein, ihm sei ein Luxushaus am Rand der Hauptstadt mit Schmiergeldern gebaut worden. Jermak ist unter dem Spitznamen „der Allgegenwärtige“ bei den Politikern der Ukraine bekannt. Deshalb, so die Leiterin des ukrainischen Anti-Korruptionscenters, einer Nichtregierungsorganisation, Daria Kaleniuk zu unserer Zeitung, sei „es nur schwer vorstellbar, dass er nichts von dem komplexen System hinter Minditsch wusste“. Am 28. November wurde zudem der frühere Verteidigungsminister Rustem Umerov vom NABU als Zeuge befragt. Jermak und Umerov gehören zu den engsten Beratern Selenskyjs. Beide sind direkt in die Gespräche über Friedenspläne eingebunden. In Kiew wird davon ausgegangen, dass Selenskyj Jermak entlässt.
Wie sind die Ereignisse zusammenzufassen?
Die auch mit hohen politischen Aufgaben betrauten Angeschuldigten bauten mutmaßlich eine hybride Struktur aus politischen Zugriffspunkten, Firmennetzwerken und einer Schattenfinanzierung auf, um sich zu bereichern. Dafür wurden Ausschreibungen manipuliert, diese politisch abgesichert und die Kriegssituation ausgenutzt. Durch die Nähe einiger Akteure zu Präsident Selenskyj haben die Ermittlungen das Potenzial, die Ukraine politisch zu destabilisieren.