Sorge um eine bedrängte Natur

Alexander Wiedemann lebt in einem Gehöft bei Murrhardt-Steinberg und ist in seiner Freizeit als Jäger viel draußen. Besonders jetzt im Frühjahr wird für ihn augenfällig, wie die Tiere in ihrem Lebensraum immer mehr eingeschränkt werden. Er setzt auf ein bewussteres Miteinander.

Sorge um eine bedrängte Natur

Im Frühjahr sind Wildtiere und ihr Nachwuchs besonders gefährdet. Eine Initiative des Jagdverbands – „Bewusst wild“ – macht auf verschiedene Aspekte des Themas aufmerksam. Wichtig ist beispielsweise, auf den Wegen zu bleiben. Ein Schild im Trauzenbachtal auf dem Trimm-dich-Pfad gibt Auskunft. Foto: C.Schick

Von Christine Schick

Murrhardt. Das Frühjahr ist für die Tier- und Pflanzenwelt eine wichtige, ganz entscheidende Periode. In Sachen Nachwuchs „ist alles auf diese Zeit ausgerichtet, es ist nicht zu heiß, nicht zu trocken und es gibt genügend Futter“, stellt Alexander Wiedemann fest. Vielen sei das aber nicht mehr bewusst, sie gingen davon aus, dass beispielsweise Rehe das ganze Jahr über ihre Kinder bekommen. In dieser Situation brauchen Eltern und Kinder Ruhe und Schutz.

Wenn Spaziergängerinnen und Spaziergänger sich unwissentlich zu nah an eine hochträchtige Geiß heranwagen oder es einfach zu einer Begegnung kommt, kann das Schwierigkeiten für das Muttertier und den Nachwuchs nach sich ziehen. „Im Wald gibt es keinen Brutkasten, in den ein Frühchen wandern kann“, sagt Wiedemann. Ebenso wichtig: Ein Rehkitz, das im Gras liegt, sich aus seinem angeborenen Verhalten heraus ruhig verhält und nicht wegläuft, nicht anfassen. Sonst könnte es die Mutter nach ihrer Rückkehr vielleicht nicht mehr als ihres annehmen. „Da tut Aufklärungsarbeit Not“, sagt Wiedemann. Dabei betont er, wie wichtig es ihm ist, dass seine Beobachtungen nicht als Vorwurf wahrgenommen werden und er keinesfalls mit erhobenem Zeigefinger daherkommen will. Er wünscht sich, dass mit dem Wissen über Natur und Lebensräume der Tiere Verständnis, Empathie und Rücksichtnahme wachsen. Ansetzen müsse man da bereits im Grundschulalter. Als er mit einer Grundschulklasse beim Jägertag unterwegs war, machte er erst mal seine Haltung klar: Er ist Gast im Wald, achtet darauf, möglichst leise zu sein und wenig Spuren zu hinterlassen, nicht ins Unterholz zu gehen, weil das die gute Stube beispielsweise von Bodenbrütern ist. Damit erhöht sich auch die Chance, wirklich einem Tier zu begegnen, was die Kinder vermisst hätten.

Die Freizeitaktivitäten und die Zeitder Nutzung haben stark zugenommen

Aber dieser vorsichtige Umgang mit Flora und Fauna trifft nicht selten auf eine andere Haltung, die nicht von heute auf morgen entstanden ist und mittlerweile an vielen Stellen zu spüren ist. „Die Natur wird konsumiert“, beschreibt Alexander Wiedemann diese Entwicklung. Ein Beispiel ist für ihn die Einrichtung von Downhilltrails, in die noch die eine oder andere Sprungstelle eingebaut wird und deren Gebiet sich folglich nicht mehr vom Wild nutzen lässt. Nicht wenige Zweibeiner seien mittlerweile bereits sehr früh, ab 4 Uhr, oder noch sehr spät, bis über 23 Uhr hinaus im Wald unterwegs, ob das zum Joggen oder Gassigehen mit dem Vierbeiner ist.

Hinzu kämen am Wochenende Geburtstagspartys inklusive lauter Musik bis hin zum Feuerwerk. Auch die Zeitumstellung im Frühjahr schert sich nicht um den Rhythmus der Tiere, was jedes Jahr zu zahlreichen Wildunfällen führt, weil Reh, Fuchs und Wildschwein ja nicht wissen können, dass Autofahrerinnen und -fahrer plötzlich eine Stunde früher unterwegs sind. „Dieses Jahr habe ich innerhalb einer Woche drei Unfälle auf der Steinberger Straße gehabt, bei denen Rehe getötet wurden.“ Als Jäger, der ein Steinberger Jagdgebiet und eines im Trauzenbachtal betreut, muss er sich bei solchen Vorfällen um die Nachsorge bei Unfällen kümmern.

Markus Blank, der ebenfalls als Jäger aktiv ist, nimmt die Situation ähnlich wahr. „Der Wald ist zu einem Rummelplatz geworden“, sagt er und dass der Respekt vor der Natur abgenommen habe. Eine zusätzliche Rolle beim Thema, das sich mit dem Stichwort bedrängte Natur überschreiben ließe, spielt für ihn die Präsenz von Technik. „Manche Mountainbikefahrer sind mit Stirnlampen unterwegs, die in der Intensität Autoscheinwerfer noch übertreffen“, sagt er. Auch der Erschließungsgrad des Waldes mit Wegen habe in den letzten 30 Jahren stark zugenommen. Ein weiterer Punkt sei, dass nicht wenige Menschen im Alter beispielsweise dank E-Bike-Technik sehr viel länger sportlich draußen unterwegs und aktiv sein können als früher. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Natur – Pflanzen und Tiere – dadurch immer weniger Erholungszeit und -raum hat.

Die beiden sind sich einig, dass es einfach die große Zahl an Menschen ist, die als Nutzerinnen und Nutzer des Waldes zum Problem werden. Wenn ein Hund ins Unterholz verschwindet, heißt das nicht, dass ein Bodenbrüter gleich dran glauben muss. „Aber es kommt ja der nächste Hund und dann der nächste und wenn der Vogel viermal gestört wird, verlässt er sein Nest möglicherweise“, sagt Alexander Wiedemann. Als Jäger nimmt er diesen hohen Takt stärker wahr als einzelne Besucherinnen und Besucher. Corona hat die Situation letztlich weiter verschärft. „Die Natur wird überrannt, in Murrhardt sind die Hörschbachwasserfälle das beste Beispiel dafür.“ Eine Facette von Nichtwissen ist die Gefahr, dass Mädchen und Jungen Tierkinder mitnehmen und zum Tierarzt bringen, weil sie denken, die Mutter kehrt nicht mehr zurück.

Das Gegenmodell? Wissen um die verletzliche Natur auf einer breiten Basis fördern, am besten mit Verbündeten wie dem Naturparkteam oder der Volkshochschule Murrhardt. Ebenso wichtig erscheint Wiedemann, ein bewusstes Erleben zu ermöglichen. Wer sich mit der entsprechenden Ausdauer ganz still verhält, bekommt sehr wahrscheinlich auch Tiere zu sehen. Natürlich spricht da der Jäger und Wiedemann kennt Entgegnungen, dass, nur weil er auf dem Jägerstand sitzen und seine Ruhe haben wolle, ein Jogger oder eine Joggerin nicht auf ihre Runde zu verzichten gedenke. Wer mit dem Vorwurf kommt, dass der Jäger Tiere tötet, dem sagt er: Ja, das ist Teil des Amts, gehört dazu. Aber die Wildtiere hätten im Gegensatz zu Nutztieren ein artgerechteres Leben beziehungsweise artgerechtere Lebensbedingungen.

Im Kern gehe es ihm darum, als Teil der Natur diese zu erleben inklusive der Begegnungen. „Mein schönstes Jagderlebnis war, als ich eine Fuchsfähe beobachtet habe, wie sie ihre Beute transportiert hat. Dann hat sie die drei Mäuse abgelegt, neu geordnet, wieder aufgenommen und ist weitergezogen.“ Und solch ein Geschenk bekomme, wer sich nicht so laut gebärde und es schaffe, sich ein Stück weit zurückzunehmen.

Warum es wichtig ist, auch einen folgsamen Hund bis ungefähr Mitte Juli an die Leine zu nehmen

Zur Brut- und Setzzeit Rehkitz und Junghase vertrauen in dieser Jahreszeit auf ihre tarnende Fellzeichnung und den noch nicht ausgebildeten Körpergeruch, erklärt der Landesjagdverband Baden-Württemberg. Die Jungtiere fliehen nicht vor einer Gefahr, sondern „drücken“ sich. Das heißt, sie bleiben regungslos und geduckt liegen und hoffen, nicht entdeckt zu werden. Kommt Mensch oder Hund einem solchen Fellbündel doch einmal so nahe, dass es die Flucht ergreift, ist es – zumindest gegenüber einem Hund – oft zu spät. Auch bei einem vermeintlich wohlerzogenen Stubenhund kann dann spontan der Jagdtrieb durchbrechen. Der Landesjagdverband appelliert deshalb an Hundebesitzer, während der Aufzuchtzeit von Jungwild, die noch bis etwa Mitte Juli dauert, auch folgsame Hunde an die Leine zu nehmen. Das Jagd- und Wildtiermanagementgesetz schreibt vor, dass Hunde verlässlich im Einwirkungsbereich ihres Halters bleiben müssen. Ein weiteres Argument ist, dass man so auch der Hautkrankheit Räude aus dem Weg geht, mit der sich auch der Hund infizieren kann, sowie Zecken, die ebenfalls Krankheiten übertragen.

Die Initiative „Bewusst wild“ befasst sich mit dem Thema und gibt im Netz Tipps und Infos unter https://bewusstwild.de.

Unfallverhalten Sollte ein Unfall mit einem Wildtier passiert sein, so gibt Wiedemann den Hinweis, dass es für die Nachsorge sehr hilfreich ist, mit einem Stock die Stelle am Straßenrand zu markieren, wo die Begegnung mit dem Tier stattfand. Noch besser ist dies zu sehen, wenn ein Taschentuch am Pfahl befestigt ist. Generell gilt: Die Polizei verständigen.