Streifzug durch kontrastreiche Klangwelt

Internationaler Orgelzyklus: Bei seinem Konzert zeigt Holger Gehring die stilistische und klangfarbliche Bandbreite der Orgelmusik der deutschen Romantik auf. Er spielt Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, aber auch den unbekannteren Gustav Adolf Merkel und Heinrich Reimann.

Streifzug durch kontrastreiche Klangwelt

Beim Konzert wird auch Holger Gehrings feines Gespür für die passende Registrierung und den wirkungsvollen Einsatz von Klangeffekten deutlich. Sein Wissen gibt er am Vortag in einem Seminar für Organisten in Murrhardt weiter. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Seit Jahren sei die Orgelmusik der französischen Romantik in Mode, jene der deutschen Romantik habe indes ein Schattendasein geführt, dabei umfasse sie ein weites Feld, verdeutlicht Holger Gehring, seit 2004 Organist der Kreuzkirche Dresden. Er gestaltet das 18. Konzert des Internationalen Orgelzyklus an der Mühleisen-Orgel in der Stadtkirche. Beim sogenannten Ohrenöffner, einer kurzen Konzerteinführung, präsentiert der Künstler zusammen mit Kantor Gottfried Mayer den zahlreichen Zuhörern eine Reihe von Klangbeispielen zur Einordnung.

Holger Gehring beschreibt sein Programm als Streifzug durch die sehr vielschichtige und kontrastreiche Klangwelt der deutschen Romantik. Hochemotional und feinsinnig zugleich interpretiert er souverän vier Kompositionen mit virtuoser Spieltechnik. Die Schule von Franz Liszt habe die Spieltechnik des Klaviers für die Orgel adaptiert, erklärt der Organist. Dies führte dazu, dass die Komponisten der Romantik erheblich größeren kreativen Spielraum erhielten und infolgedessen die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten der Orgel enorm erweiterten. Gehring demonstriert sein enorm feines Gespür für die passende Registrierung und den wirkungsvollen Einsatz von Klangeffekten wie Schweller und Schwebung, somit die kreative Gestaltung unterschiedlicher Klangbilder und Stimmungen.

Zum Auftakt bietet er die viersätzige Sonata f-Moll Opus 65 Nr. 1 dar. Sie ist die früheste, kunstreich ausgearbeitete Orgel(Choral-)Sonate von Felix Mendelssohn Bartholdy, deren Typus oft von anderen Komponisten nachgeahmt wurde. Das monumentale Hauptthema ist von ernstem, fast düsterem Charakter mit unruhigen, teils hart wirkenden Akkordfolgen. Dem gegenüber steht die Choralmelodie „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit“, aus deren eingängig sanften, weichen Klängen Gottvertrauen und Hoffnung spricht. Eine kunstvolle Steigerung mit treppenförmig immer höher emporstrebenden Figuren und gebrochenen Akkorden findet ihren Höhepunkt in einer strahlenden Schlusskadenz.

Es folgen selten aufgeführte Werke von zwei heute kaum mehr bekannten Komponisten. Der aus der Oberlausitz stammende Hochromantiker Gustav Adolf Merkel war Organist der Kreuzkirche und der Hofkirche in Dresden und zu seiner Zeit sehr populär – seine Werke gehörten zu den am meisten gespielten. Warum, verdeutlicht sein „Adagio im freien Styl“ Opus 35. Es ist ein klangschöner Ohrenschmeichler mit typischer, romantisch-idyllischer Melodik, wohldosierten dramatischen Momenten und verspielt-virtuosen Figuren in einem Holzblasinstrument-Register, die an Vogelstimmen erinnern.

Merkels Sonate Nr. 2 g-Moll Opus 42 ist hingegen ein überaus vielschichtiges Tonkunstwerk, anscheinend zum Teil von Johann Sebastian Bach inspiriert und in die Tonsprache der Romantik übersetzt. Die Sonate mit drei Sätzen und einer Fuge als Abschluss lebt vom Kontrast zwischen dramatisch-expressiven Figurationen, lieblich-melodiösen Wohlklängen und rhythmisch-motorischer Bewegung. Am Schluss erfolgt eine grandiose Steigerung von wenigen weichen Registern bis zum prächtig jubelnden Tutti.

Auch der in Schlesien geborene Spätromantiker Heinrich Reimann, Organist an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, war ein Verehrer Bachs und ließ sich von dessen Passacaglia zu seiner Ciacona f-Moll Opus 32 inspirieren. Das ernste, tiefsinnige Thema, das meist im Pedal erklingt, gegen Ende auch auf den Manualen, erinnert deutlich an Bach. Doch im breiten Spektrum der kontrastreich registrierten und musikalisch ganz verschiedenartig gestalteten Variationen entfaltet sich ein enorm facettenreiches Klangpanorama in spätromantischer Fülle der musikalischen Ideen und Charaktere, mit einem gewaltig und dramatisch wirkenden Abschluss.

Die Zuhörer danken Holger Gehring mit tosendem Applaus für das abwechslungsreiche Konzert. Daraufhin spielt er als Zugabe noch das zärtliche, melodiöse Andante aus der dritten Orgelsonate von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Holger Gehring unterrichtet an der Mühleisen-Orgel

Orgelseminar Am Tag vor dem Konzert leitete Holger Gehring an der Mühleisen-Orgel ein Seminar zur Orgelmusik der deutschen Romantik für haupt- und nebenberufliche Organisten. Von den rund 20 Teilnehmern hatten zwölf ein oder zwei Werke vorbereitet. Die Teilnehmer kamen aus der Region Stuttgart, aber auch von weiter her wie Ehingen (Alb-Donau-Kreis). Nach Einschätzung von Kantor Gottfried Mayer ist dies dem Dozenten, aber auch der besonderen Möglichkeiten der Mühleisen-Orgel insbesondere mit Blick auf Werke aus der Romantik zu verdanken. Das achtstündige Seminar bot viel Abwechslung, da etwa alle halbe Stunde der Organist und ausgewählte Stücke wechselten, was der Teilnehmerzahl geschuldet war.

Wiederholung Gottfried Mayer will an das gelungene Seminar anknüpfen. „Wir möchten gerne weitermachen und auch künftig Kurse für Organisten anbieten“, sagt er. In welchen Abständen und wie regelmäßig das sein kann, müsse sich zeigen. Mögliches Zusatzangebot: Interessierten als stillen Zuhörern Eindrücke aus dem Unterricht an der Orgel vermitteln.