Theodor Heuss, vergessen in der Stadtkirche

Theodor Heuss, vergessen in der Stadtkirche

Christian Schweizer (links) kann bei seinen Führungen aus einem reichen Fundus an Geschichte und Geschichten schöpfen. Beim Rundgang durch Murrhardt, der bei der Volkshochschule startete (Foto), machte er mit seinen Gästen an weiteren markanten Punkten Halt wie dem Marktplatz und der Stadtkirche. Foto: J. Fiedler

Von Christine Schick

MURRHARDT. „Gibt es jemanden, der hier noch zur Schule gegangen ist?“, fragt Christian Schweizer. „Ja!“ Eine Frau im Rollstuhl meldet sich. Die Gruppe von rund 30 Personen hat sich zwischen dem Grabenschulhaus und kleinen Verwaltungsgebäude der Volkshochschule Murrhardt versammelt, um an diesem Vormittag von dort aus durch die Stadt zu pilgern und vom Leiter des Carl-Schweizer-Museums die eine oder andere Murrhardter Anekdote erzählt zu bekommen. Neben dem Grabenschulhaus gibt es noch das „Kinderschüle“ in der Unteren Schulgasse, in dem Tante Sofie als Kindergärtnerin gewirkt hat und das Einzelne möglicherweise noch von früher kennen.

Unter den Gästen sind aber auch Senioren, die nicht aus der Walterichstadt stammen und insofern wird Christian Schweizer Murrhardter Spezialitäten auch erläutern. Über die Obere Schul- und Mittelgasse geht es in Richtung Marktplatz. Schon die Wege erzählen. Die Brandgasse verweist auf den Stadtbrand 1765. „Des war a schlimme Sach‘“, stellt Schweizer fest. Über die frühere Präsenz von Handwerkern in der Stadt kommt er zu Firmen und den Namen Soehnle, den einige dem damaligen Murrhardter Waagen-Hersteller zuordnen können, und Erich Schumm, dem Unternehmer. Er erkundigt sich, ob noch jemand weiß, was der so erfunden oder hergestellt hat. „Muggenbatscher“, „Esbit“ und „Kaugummi“ wird zusammengetragen.

In dieser Hinsicht sind eine Reihe von Gästen etwas im Vorteil: Sie sind Bewohner der Schumm-Pflege gGmbH, eine Pflegeeinrichtung, die historisch mit dem Unternehmer verbunden ist. Stefan Nägele und eine Reihe von Kolleginnen haben es gemeinsam mit der Pflegedienstleitung ermöglicht, dass die Senioren heute bei der Führung mit von der Partie sein können. „Wir sind regelmäßig dabei“, sagt ein Mann, der seine Frau im Rollstuhl begleitet. „Mir gefallen die Führungen, weil Christian Schweizer das mit einer guten Mischung macht. Es ist verständlich für die Senioren, aber auch für die betreuenden Personen wie mich sind interessante Aspekte dabei“, sagt er. Das Ehepaar kommt extra aus Heutensbach zu den Führungen.

Der Kälblesmarkt bot Gelegenheit, hübsche junge Frauen kennenzulernen

Als die Gruppe beim Stern haltmacht, erläutert Schweizer, dass Friedrich Christoph Oetinger als Prälat beim Wiederaufbau nach dem Brand auch die Gasthäuser im Blick hatte. „Murrhardt sollte eine gottgefällige Stadt werden.“ In dem Fall waren Standort und Name beziehungsweise die biblische Symbolik ausschlaggebend. „Es hat 32 Wirtschaften gegeben.“ Gemessen an damals 800 Einwohnern kein schlechter Schnitt. „Man hat zusammengesessen und gesungen.“ Auch Ostern hatte seine weltliche oder vielmehr menschliche Seite. „An Karfreitag gab es den Kälblesmarkt.“ Einige der Älteren nicken. „Sie wissen, was es damit auf sich hatte?“ Aus den Reihen der Zuhörer wird bestätigt: „Da gab’s schöne Mädle“, die verklausuliert als Kälble bezeichnet wurden. Der Markt und die Wallfahrt hatten demnach noch weitere soziale Funktionen. Nicht ganz so geläufig scheint der Gruppe der Begriff „Klämmerlesgäu“, der als Regionsbezeichnung dafür steht, dass die Handwerker und Menschen aus ihren Werkstoffen, in dem Fall Holz, alles herausholten und auch bescheidene Produkte wie Wäscheklammern anboten.

Auf dem Marktplatz erzählt Christian Schweizer von Madame Schippert und was sich aus dem Württembergischen Wappen von Herzog Christoph, der über dem Brunnen thront, für ein Kinderabzählreim ableiten lässt: „Gitterle, Gäbele, Vögele, Fisch.“

Dann fängt es an, zu tröpfeln, und es geht vorsorglich in die Stadtkirche, in der Schweizer wieder aus dem Vollen schöpft. Die Gruppe erfährt von „Neuigkeiten über Walterich“, der nach neuesten Erkenntnissen wohl aus dem französischen Besançon nach Deutschland kam. Die Klosterkirche mit zwei Chören, in denen einst Mönche und Laienbrüder Platz nahmen, war auch ein Ort für – heute würde man Promis sagen – weltlich beziehungsweise kirchlich einflussreiche Persönlichkeiten. Schweizer berichtet von Friedrich Christoph Oetinger, der seine Predigten am Vorabend in der Stadtkirche vor leeren Stühlen probte, um sie rhetorisch geschliffener zu gestalten, wie er vermutet. „Murrhardter, die noch unterwegs waren, haben das Licht in der Kirche gesehen und den Prälaten gehört. Und was haben sie draus gemacht?“, fragt er und schließt die Antwort gleich an: „Der predigt den Geistern!“

Der spätere Bundespräsident Heuss wurde versehentlich eingeschlossen

Nicht nur allein, sondern auch eingesperrt in der Stadtkirche war einst der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, den die Glocken läutenden Buben erst einließen, damit der sich in der Kirche umsehen konnte, dann aber nach ihrem Dienst wohl vergaßen. Da der Zugang zum Glockenturm aber noch offenstand, holte der sich schließlich läutend Hilfe – so berichtet Schweizer von der Geschichte, die man sich seinerzeit in Murrhardt erzählte. „Ach komm!“, raunt eine Besucherin. Als die Sprache auf Konfirmation und Hochzeit kommt, meldet sich eine Frau, die sich noch gut an ihre Trauung in der Stadtkirche erinnert. Auch Caroline Schelling, geschiedene Schlegel, stand einst vor dem Altar, um den Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu heiraten. Schweizer charakterisiert sie als selbstbewusste und emanzipierte Frau. Sein Beispiel: Sie sagt Schiller geradeheraus, dass er schwäbisch redet, was ihr den Spitznamen Madame Luzifer einbrachte.

Nach einem letzten Abstecher ans obere Tor, dem Fundort dreier römischer Brunnen aus dem Jahre 162 nach Christi, ist die kleine Reise zu Ende. „Vielen Dank!“, sagt eine Frau und unterstreicht, wie gut ihr der Vormittag gefallen hat. Das positive Feedback freut Christian Schweizer. Neben dem Vorteil, dass die meisten Sehenswürdigkeiten in Murrhardt barrierefrei erreichbar sind, kann der Museumsleiter natürlich auf eine große Schatzkiste an Anekdoten aus der Murrhardter Geschichte zurückgreifen. Was bedeutet darüber hinaus für ihn die Zielgruppe der Demenzkranken? Schweizer versucht bewusst, Wiederholungen einzustreuen, sinnlich wahrnehmbare Anschauungsstücke miteinzubauen – beispielsweise im Frühjahr blühende Büsche – oder kleine Anker zu setzen wie mit einer Postkarte von Murrhardt, die er zum Schluss noch verteilt. „Letztlich ist aber auch jede Gruppe anders, und man muss flexibel bleiben.“

In der Walterichstadt gab es eine Reihe von Projekten, um Demenzkranke, Angehörige und das Umfeld zu unterstützen – auch im Sinne eines breit aufgestellten gesellschaftlichen und gut informierten Engagements. Dazu hatten sich Volkshochschule, die Stelle Bürgerschaftliches Engagement, die Stadtverwaltung, Landratsamt, Vereine und Ehrenamtliche zusammengetan. Vor diesem Hintergrund konnte auch über die Projekte hinaus ein Budget für diese Stadtführungen ermöglicht werden, das sich aus noch verfügbaren Geldern des mittlerweile aufgelösten Fördervereins Demenz Rems-Murr speist. Insofern wird es nicht der letzte Rundgang sein, der den Betroffenen und ihren Angehörigen angeboten werden kann. Die Stadtspaziergänge können noch eine Zeit fortgeführt werden.