Nirgends kostet ein Quadratmeter Grund mehr Steuer als in Tübingen. Laut OB Palmer müsste sie „eigentlich noch viel stärker steigen“ – und sagt eine flächendeckende Erhöhung voraus.
Tübingens OB Boris Palmer sah für einen genehmigungsfähigen Haushalt keine andere Möglichkeit, als die Grundsteuer rückwirkend zu erhöhen.
Von Florian Dürr, Simon Koenigsdorff und Jan Georg Plavec
Die Grundsteuerreform hat viele Eigentümer im Ländle bewegt: Wie hoch ist meiner Steuerlast? Kann die Kommune das Versprechen halten, die Reform nicht für höhere Einnahmen als vorher zu nutzen? Während diese Fragen mittlerweile beantwortet sind, weiß keiner, wie hoch die tatsächliche Grundsteuer-Belastung vor Ort im Vergleich zu anderen Kommunen ist.
Unsere Zeitung hat nun mit einer exklusiven Datenanalyse die durchschnittliche Grundsteuer je Quadratmeter bebautes Wohngrundstück in allen 1101 baden-württembergischen Städten und Gemeinden errechnet (zur Methodik siehe Infokasten unten).
Palmer: nicht überrascht
In diesem Ranking landet Tübingen mit durchschnittlich 2,69 Euro pro Quadratmeter an der Spitze – noch vor Stuttgart (2,62 Euro/Quadratmeter). Die Unistadt ist damit das teuerste Pflaster für Grundstückseigentümer im Südwesten. Und auch für Mieter, da Eigentümer die Grundsteuer auf ihre Mieter über die Nebenkostenabrechnung umlegen dürfen.
Die Tabelle zeigt die zehn Städte in Baden-Württemberg mit der höchsten durchschnittlichen Grundsteuer:
In die Berechnung eingeflossen sind neben dem örtlichen Grundsteuer-Hebesatz auch die Bodenrichtwerte, die den Grundstückswert abbilden und zur Berechnung der Grundsteuer herangezogen werden. Eine hohe Grundsteuerbelastung kann sowohl durch einen hohen Hebesatz als auch durch teuren Grund und Boden entstehen – oder durch beides.
Für Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) ist das Ergebnis nicht überraschend: „Wir haben die Grundsteuer rückwirkend um ein Viertel erhöht.“ Tübingen hatte im Sommer für einen genehmigungsfähigen Haushalt den Hebesatz der Grundsteuer B rückwirkend zum 1. Januar deutlich angehoben – von 270 auf 350 Prozent. Aber auch mit dem alten Hebesatz wäre Tübingen noch unter den zehn Kommunen mit der höchsten Grundsteuerbelastung gelandet.
Erhöhung „in nahezu allen Gemeinden notwendig“?
Generell benötigten Großstädte und Unistädte wegen höherer Kosten eben auch höhere Steuereinnahmen, sagt Palmer. Er vermutet: „Das hat Gründe, warum da keine Gemeinde unter 50 000 Einwohnern unter den Top 10 ist.“ Für die Entwicklung im Tübinger Fall macht der OB auch die steigenden Sozialkosten des Landkreises, die Tübingen mittels Kreisumlage mitfinanziert, verantwortlich: „Die Sozialausgaben fressen uns schlicht die Haare vom Kopf und zwingen dazu, die einzige existierende Vermögensteuer zu erhöhen“, so Palmer: „Eigentlich müsste sie noch viel stärker steigen.“ Eine Erhöhung der Grundsteuer werde „in den kommenden Jahren in nahezu allen Gemeinden des Landes notwendig“.
Bleibt das Thema nach all dem Streit um die Grundsteuerreform also weiter auf der Tagesordnung? Die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Städtetags, Susanne Nusser, kann Palmers Aussage mit den absehbar steigenden Hebesätzen „nicht für alle Städte bestätigen“, dafür sei die Situation vor Ort vielfach zu unterschiedlich. Trotzdem dürften die Grundsteuern vielerorts angehoben werden. „Kein Bürgermeister tut das leichten Herzens, aber es geht oft nicht mehr anders“, sagt Nusser. Etliche Städte könnten ohne zusätzliche Einnahmen keinen genehmigungsfähigen Haushalt aufstellen, „und aus dem laufenden Betrieb kann man nicht unendlich viel herausschwitzen“. Deshalb werde die Grundsteuerdiskussion „flächendeckend kommen“, so Nusser: „Nicht in allen, aber in vielen Gemeinden.“
Auch Christopher Heck vom Gemeindetag verweist auf das „historische Defizit“ in den Kommunalfinanzen. Es zeichne sich ab, „dass sich vielerorts Mehrbelastungen oder Leistungseinschränkungen kaum vermeiden lassen werden. Die Erhöhung der Grundsteuer kann hierbei ein Element sein.“ Zwar bringe das jüngst mit dem Land vereinbarte Finanzpaket wichtige Entlastungen. Doch, so Heck weiter, es stünden „vielerorts sehr schwierige Haushaltsberatungen und Abwägungsentscheidungen“ ins Haus – auch zum Thema Grundsteuererhöhung.
Doch bereits die aktuelle Grundsteuer-Erhöhung erhitzt in der Unistadt die Gemüter: Derzeit streiten sich der Tübinger Ableger des Eigentümervereins Haus&Grund und die Stadt um die Rechtmäßigkeit der Hebesatz-Anhebung. Nach Ansicht des Vereins könnte die Grundsteuer-Erhöhung möglicherweise rechtswidrig sein, weil die sogenannte Änderungssatzung laut eines „von dritter Seite in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens“ nicht veröffentlicht worden sein soll. Seit diesem Hinweis seien im Tübinger Rathaus mehr als 650 Widersprüche eingegangen, informierte kürzlich eine Sprecherin.
Tübingen nicht die einzige Stadt, die Grundsteuer rückwirkend erhöht hat
Palmer jedoch wehrt sich vehement gegen die Darstellung, sprach von „offenkundig unbegründeten Widersprüchen wegen einer offenkundig falschen Behauptung des Hausbesitzervereins“ und forderte Eigentümer auf, die Widersprüche zurückzuziehen. Dieser Forderung sind mehrere nachgekommen. Auch die zuständige Aufsichtsbehörde, das Regierungspräsidium Tübingen, sieht „keine Anhaltspunkte für eine mangelhafte Bekanntmachung der Satzung“.
Haus&Grund aber kündigte dann jüngst ein weiteres, ein eigenes Gutachten bei einem Experten für Verwaltungsrecht an. Dessen Ergebnis liege voraussichtlich Ende Oktober vor. Palmer jedoch fordert den Verein auf, bis spätestens 24. Oktober eine Unterlassungserklärung zu unterzeichnen, ansonsten werde die Stadt gerichtlich gegen die Behauptung vorgehen.
Tübingen ist nicht die einzige Stadt im Südwesten, die die Grundsteuer rückwirkend erhöht hat: Auch Baden-Baden hat wegen einer schwierigen finanziellen Lage zu diesem Mittel gegriffen und den Hebesatz auf 345 Prozent erhöht. Im Vergleich aller 1101 Kommunen im Land landet die Stadt damit auf Platz 37. Palmer vermutet: „Alle anderen entscheiden das mit dem Haushalt 2026.“
Datenrecherche: Wie die Zahlen ermittelt wurden
MethodeDie Zahlen basieren auf einer exklusiven Analyse unserer Redaktion. Dafür haben wir auf Basis der örtlichen Hebesätze und Bodenrichtwerte die theoretische Grundsteuer für rund 2,3 Millionen Flurstücke in Baden-Württemberg berechnet, die laut dem amtlichen Liegenschaftskataster in Wohn- oder Mischgebieten liegen und auf denen Gebäude stehen, die ganz oder teilweise zum Wohnen genutzt werden. Für jede Gemeinde ergibt sich daraus eine durchschnittliche Grundsteuerbelastung pro Quadratmeter. Unterschiedlich teure Bodenrichtwertzonen gehen dabei nur im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Größe in den Gesamtwert ein. Die einheitliche Berechnung macht erstmals alle Gemeinden im Land vergleichbar, ermöglicht aber keine exakten Aussagen über die tatsächlichen Grundsteuerbescheide einzelner Grundstücke oder die Gesamteinnahmen der Kommunen. Sie erlaubt eine Annäherung auf der Basis gewisser Annahmen und leichter Vereinfachungen.
AktualitätDie Flurstücksinformationen aus dem Liegenschaftskataster wurden zuletzt Mitte August abgerufen, die Bodenrichtwerte wurden aus BORIS-BW zwischen Mai und August abgerufen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden auch rückwirkende Änderungen an den grundsteuerrelevanten Bodenrichtwerten berücksichtigt. Die Hebesätze wurden vom Statistischen Landesamt veröffentlicht.