Unerklärliche Natur?

Die Teilnehmer der philosophischen Werkstatt haben sich im Murrhardter Stadtgarten getroffen, um sich mit Naturphilosophie zu beschäftigen. Unvermeidlich kamen dabei auch Corona und das vom Menschen verursachte krisenhafte Geschehen zur Sprache.

Unerklärliche Natur?

Diskussion in der grünen guten Stube, dem Murrhardter Stadtgarten, geschützt vom Halbrund des Julius-Söhnle-Pavillons mit Ingrid Kasper, Margarete Neumann, Karl-Heinz Schuck, Werner Dreiseitel und Ulla Mohrenweiser von Hamm (von links). Fotos: C. Schick

Von Christine Schick

MURRHARDT. Der Denk- und Diskutierlust wird im Julius-Söhnle-Pavillon der rote Teppich ausgerollt. Während die Enten ziemlich entspannt auf der Wiese vor dem Murrhardter Feuersee liegen, hat Mareen Thiebel, die zurzeit ihren Bundesfreiwilligendienst bei der Murrhardter Volkshochschule macht, Holzstühle mit Sitzkissen organisiert und aufgestellt. Die beiden Dozentinnen Kirstin Krack und Dorit Pusch begrüßen ihre Gäste mit Abstand und halten ein Heißgetränk nach Wahl bereit.

Nichtsdestotrotz geht es bei der Diskussion inhaltlich zur Sache. Schon während Kirstin Krack das große Gebiet der Naturphilosophie mit ein paar Begriffs- und Theoriepflöcken – physische und belebte Welt sowie Wesensnatur – abstecken will, meldet sich Werner Dreiseitel zu Wort. Es gefällt ihm nicht besonders, dass der Mensch sich außerhalb des Systems platziert. Für ihn ist dieser Reflex Teil des heutigen Missverhältnisses zur Natur. Das theoretische Raster, das Kirstin Krack anreißt, offeriert eine historische Linie von den Vorsokratikern mit Elementarlehre über Sokrates mit einem ethischen Zugang zu Aristoteles und seine Idee einer zielgerichteten Natur und göttlichen Kraft, aus der alles erwächst. Der Pantheismus trennt nicht mehr zwischen dieser Kraft und Welt, die Neuzeit umso stärker. Eingeleitet durch die Überlegungen Kants, der auf die Wahrnehmung und das Vermögen des Menschen abhebt, die Welt in Begriffe zu ordnen, setzt sich ein mehr und mehr mechanisch und naturwissenschaftlich geprägtes Welt- und insofern auch Naturbild durch. Friedrich Schellings Naturphilosophie „hat noch mal einiges durcheinandergewirbelt“, sagt Kirstin Krack. Die Romantik als Bewegung reagiert für Dorit Pusch aber genau auf das Defizit eines rein instrumentellen Zugangs.

Die Antworten auf die Frage nach dem persönlichen Verhältnis und den eigenen Ideen zur Natur der Werkstattrunde unterstreichen das Krisenhafte, die abgerissene Verbindung bis hin zur Zukunftsangst. Margarete Neumann merkt an, dass ihr Schellings Konzept von einer beseelten Natur sehr entsprochen hat. „Ich glaube, dass die Natur letztlich sehr viel stärker ist als das, was sich die Menschen überlegen. Auch Corona hat gezeigt, dass sich die Natur zurückgemeldet hat“, sagt sie. „Mir bedeutet die Natur sehr viel, ich engagiere mich auch in verschiedenen Projekten“, erläutert Ingrid Kasper. Sie ist davon überzeugt, dass eine emotionale Beziehung zur Natur entscheidend ist. Da der Glaube an Gott immer mehr an Bedeutung verliere, blieben noch die Maschinen. Der Menschheitstraum, zum Mars zu fliegen, sei verständlich, trotzdem geht sie davon aus, dass die Natur letztlich stärker und nie ganz beherrschbar ist. So viel sich auch von der Natur abschauen ließe, der Mensch müsse erkennen, nicht ohne sie leben zu können. Mareen Thiebel als Jüngste in der Runde sagt, dass ihr Zugang ein naturwissenschaftlicher ist. Besonders interessiert sie die Physik.

Der Philosoph Martin Seel hält für die Beziehungsebene drei Wahrnehmungskategorien bereit, die Kirstin Krack ergänzt, weil sie in der Diskussion bereits aufscheinen – eine kontemplative (sinnfreie Wahrnehmung des Augenblicks), korrespondive (sinnfällige Natur, die den Menschen nicht braucht) und imaginative (Kunstschöne der Natur). Dorit Pusch stellt fest, dass der naturwissenschaftliche Blick ein sehr objektivierendes Verhältnis setzt, das eine große Kluft zwischen Betrachter und Betrachtetem schafft. Die Erörterung über diese Distanz und das instrumentelle Verhältnis zur Natur mündet in einer ernsten Debatte über die aktuelle Situation um Corona, Klimawandel und Umweltzerstörung. Zum coronabedingten Rückzug der Menschen und dem Phänomen, dass Tiere sich kurzfristig Räume zurückerobern konnten, sagt Kirstin Krack: „Das hat mir gezeigt, wie stark der Druck auf die Natur ist.“ Dorit Pusch merkt an, dass der Erderschöpfungstag (nachhaltig nutzbare Ressourcen für das Jahr sind verbraucht) immer weiter nach vorne rückt und trotz Corona dieses Jahr am 21. August lag. Das wirft für Ingrid Kasper grundsätzliche Fragen auf – wie viel Solidarität ist vorhanden und halten wir die Einschränkungen aus, die da auf uns zukommen? Für Dorit Pusch liegt eine weitere zentrale Schwierigkeit in der Reaktion auf Krisenzeiten, denn für sie birgt ein drohender Rückgriff auf einfache Modelle oder Lösungen genauso Gefahr, beispielsweise durch Einschränkungen von Freiheit und Errungenschaften wie Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen.

Auch die Beziehung wird reflektiert: „Ich liebe meinen Garten, aber das ist kultivierte Natur“, sagt Ulla Mohrenweiser von Hamm. Das Ensemble an Pflanzen, das sich dort findet, ist komponiert, der Eingriff offensichtlich. Ihr Sitznachbar Werner Dreiseitel geht mit dem Menschen, der sich außerhalb des Systems stellt, hart ins Gericht: Er könne die Natur zwar nicht zerstören, aber lokal beeinflussen, was gerade zu dessen Ungunsten geschieht. „Das resultiert aus der Unfähigkeit, in die Zukunft zu denken, liegt an der kurzen Lebenszeit.“

Die Kluft zwischen dem Wissen um die problematische Lage und dem Handeln ist offensichtlich.

Der Notwendigkeit beispielsweise den CO2-Ausstoß zu reduzieren, würde das Totschlagargument Arbeitsplätze entgegengehalten, obwohl letztlich die Zusammenhänge bekannt seien. Trotz Erderwärmung und Umweltzerstörung fände man tausend Ausreden. Manchmal frage er sich, ob im Menschen ein Keim zur Selbstvernichtung angelegt sei. Gleichzeitig bezahlten im Moment andere dafür, was die westlichen Länder tun. „Bleibt die Frage, woher diese große Kluft zwischen Wissen und Handeln herrührt“, fragt Dorit Pusch. Das Gefangensein in einem trägen, großen System?

Auch für Karl-Heinz Schuck ist die Lage alles andere als einfach. Er beschreibt seine Beziehung zur Natur als eine liebe- und respektvolle, gewachsen durch eine Kindheit in Murrhardt mit Gärten, Wäldern und Landschaften als Spielzimmer. Einerseits brauche die Natur den Menschen nicht, andererseits habe er sich an die Spitze gesetzt und trage damit auch Verantwortung. Doch das Christentum habe mit der Haltung „macht euch die Erde untertan“ große Schuld auf sich geladen, da es die Natur in letzter Konsequenz zur Ausbeutung freigegeben habe. Mittlerweile führe eine rein instrumentelle Sicht auf sie dazu, dass die Menschen ihre eigene Lebensgrundlage untergraben. „Ich bin ratlos, wie wir die Beziehung positiv wenden können“, sagt er. Wenn es nicht gelingt, das Verhältnis zu ändern, werde es noch viele Coronas geben.

Die Diskussion kreist noch einige Zeit um die Frage einer freiwilligen Einschränkung in Bezug auf die heutige, von einem ressourcenintensiven Konsum geprägte Lebensweise. Werner Dreiseitel stellt allerdings trocken fest: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit, der Rest ist Quatsch. Wir müssen uns selbst begrenzen, durch Zwang, Gesetze.“ Letztlich heiße es, ins Handeln zu kommen.

Dorit Pusch skizziert zum Abschluss das Buch „Tunguska oder das Ende der Natur“ von Michael Hampe, in dem der Autor eine übergreifende Konzeption des Naturbegriffs infrage stellt. Die Grundidee: Die Vorstellungen sind nie ganz neutral und spiegeln immer verschiedene Interessen wider. Beispielhaft lässt er in einem belletristischen Abriss vier Stellvertreter – ein Physiker, ein Biologe und zwei Philosophen – in einer Geschichte sprechen, die die unterschiedlichen Positionen abstecken. So tritt die Konzeption einer berechenbaren Natur mit allgemeinen Gesetzmäßigkeiten (Physik) neben die einer vom kreativen Prozess der Evolution bestimmten (Biologie) und der Vorstellung vom absoluten Zufall und nicht Erklärlichen sowie der Negation von Natur, weil sie sich nicht mehr von der Kultur abgrenzen lässt (Philosophie).

Corona zieht sich sinnbildlich wie ein roter Faden durch den Vormittag und bleibt präsent – auch beim nächsten Werkstatttermin am 11. November, 19 Uhr, der dann nicht mehr draußen stattfinden kann, heißt es, die Räume in der Volkshochschule für den entsprechenden Abstand zu reservieren.

Unerklärliche Natur?

Dorit Pusch

Unerklärliche Natur?

Kirstin Krack