Vernunft setzt sich gegen den Ehrgeiz durch

Der Gipfel des 7126 Meter hohen Himlung Himal ist nur noch den sprichwörtlichen Steinwurf entfernt, als Marc Grün umkehrt. Ein alternativloser Entschluss, sagt der Backnanger Bergsteiger, der sich Erfrierungen ersten Grades zuzieht. Andere Expeditionsteilnehmer erwischt es schlimmer.

Vernunft setzt sich gegen den Ehrgeiz durch

Mitten in der Nacht auf dem Weg zum Gipfel, den Marc Grün bei extremen Bedingungen am Ende nicht ganz erreicht. Foto: privat

Von Steffen Grün

Das Ziel des einmonatigen Trips von Marc Grün in den Himalaya war klar formuliert: Er wollte zum ersten Mal einen Siebentausender bezwingen und hatte sich dafür den Himlung Himal ausgeguckt (wir berichteten). Und in gewisser Weise hat der 43-Jährige das auch geschafft, denn die 7000-Meter-Marke war passiert, als der Traum vom Gipfelsturm platzte. Dennoch hatte sich der frühere Radballer des RSV Waldrems, der sich in einen leidenschaftlichen Bergsteiger verwandelt hat, die Reise anders vorgestellt, als er am 14. Oktober von Frankfurt in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu flog.

Dort angekommen, ging es zunächst mit dem Bus weiter, ehe ihn ein Jeep zum Ausgangspunkt ins Gebirge brachte. Bereits auf dieser recht rumpeligen Fahrt setzte der Regen ein, der ein Vorbote der Probleme war, die kommen sollten. Die beinahe pausenlosen Niederschläge erschwerten den neuntägigen Marsch zum Fuß des Berges, von dem sich ohnehin schon viele Kollegen abschrecken lassen. „Es war extrem matschig und es gab Sturzbäche links und rechts des Weges“, schildert Marc Grün die nicht gerade ungefährliche Situation: „Die Folge waren ein paar heikle Flussüberquerungen, die ohne den vielen Regen völlig harmlos gewesen wären.“ Erst nach fünf Tagen hörte es auf, insgesamt fand der Schwabe den Anmarsch aber trotzdem „okay, für die langsame Akklimatisierung war es genau richtig“.

Zudem bekam er auf dem Weg durch das abgelegene, ursprüngliche und tibetisch-buddhistisch geprägte Tal den Kontakt zu den Einheimischen, den er sich gewünscht hatte. In den ersten drei Nächten übernachtete Marc Grün in einfachen Unterkünften, quasi mit Familienanschluss. Meistens war die Küche der Treffpunkt, „denn das ist der einzige beheizte Raum, der Ofen wird mit getrockneter Yakscheiße geheizt“. Was kurios klingt, hat eine simple Erklärung: Anderes Brennmaterial ist in dieser Höhe rar. Für zwei oder drei Euro die Nacht gab es neben einem Bett ein Abendessen (meistens Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht, „das ist super, ich kannte das schon), und zum Frühstück einen Teigfladen mit Tee.

Schneemassen türmen sich viel früher, als es die Bergsteiger erwartet hatten

Bei so einer Gastfreundschaft fiel es fast schwer, weiterzuziehen. Ziel war aber, bald das Basislager auf 4400 Metern aufzuschlagen, um von dort den Berg in Angriff nehmen zu können. Dass die starken Regenfälle im Tal bereits auf 3500 Metern in Schnee übergegangen waren, erschwerte die Expedition enorm. Ständig in der weißen Pracht einzusinken, bedeutete „Strapazen, mit denen wir erst viel später gerechnet hatten“, ungefähr ab dem ersten Hochlager auf 5300 Metern. Nun türmte sich der Schnee schon im Basislager rund einen Meter hoch, weiter oben waren es zweieinhalb Meter. Bedingungen, die schon das Auf und Ab zwischen dem Basislager und den beiden Hochlagern, das dem Materialtransport, dem Zeltaufbau und der weiteren Akklimatisierung diente, zu einer Tortur machte. „Danach ist man platt“, gibt Marc Grün zu, weshalb im Basislager noch einmal drei Erholungstage eingelegt wurde, ehe es richtig ernst wurde.

Der 4. November kristallisierte sich mit Blick auf den Wetterbericht als der Tag heraus, an dem es auf den Gipfel gehen sollte. Mit einer Etappe pro Tag ging es ins zweite Hochlager auf 6100 Metern, dort mummelten sich die Bergsteiger in den Schlafsäcken ein. Was anderes bleibt auch nicht, denn „sobald die Sonne etwa um 17 Uhr weg ist, ist es eiskalt“. Also rein ins warme Gewand und vor sich hin dösen, bis abends um elf Weckzeit war. Frühstück eine halbe Stunde später, Abmarsch mit Anbruch des neuen Tages. Alles war durchkalkuliert, bis zum angekündigten Sturm um die Mittagszeit „wollten wir fast schon wieder unten sein“.

Petrus meinte es aber alles andere als gut mit Marc Grün und seinen Mitstreitern. Der Sturm traf die Expedition schon am frühen Morgen mit voller Wucht, auf einer Höhe von rund 7000 Metern herrschte eine Eiseskälte von minus 32 Grad Celsius. Die Folgen waren dramatisch. „Der älteste Teilnehmer brach zusammen und musste im Biwaksack geborgen werden“, berichtet der inzwischen in Ulm wohnende Backnanger: „Eine Österreicherin erlitt schwerste Gesichtserfrierungen, einem Sherpa erfroren acht Finger.“ Und dann war da noch ein Bergsteiger, „der sich den Gipfel trotz aller Warnungen nicht nehmen lassen wollte. Er bezahlte seinen Erfolg mit einer schwarzen erfrorenen Nase.“ Alle vier Verletzten mussten mit dem Hubschrauber vom Berg geholt werden.

So weit wollte es Marc Grün auf keinen Fall kommen lassen. Als er auf über 7000 Metern seine Zehen und Fingerspitzen sowie die Nase nicht mehr spürte, zog er die Konsequenzen. Er kehrte um, obwohl der Gipfel in greifbarer Nähe war, praktisch nur noch einen Steinwurf entfernt. „Es war eine megaschwere Entscheidung, das bricht einem das Herz. Es gab aber nur diese Entscheidung“, gewährt Grün einen Einblick in die Gefühlswelt. So blieb es wenigstens bei Erfrierungen ersten Grades – „das verheilt alles wieder“, auch wenn der große Zeh am linken Fuß und fast alle Fingerspitzen eine gute Woche nach der Rückkehr in die Heimat immer noch kalt und taub sind.

Die Sorge um die Verletzten überwiegt die Freude am trotz allem Geleisteten

Wie es denjenigen Expeditionsteilnehmern geht, die es deutlich schlimmer erwischt hat, weiß er im Moment nicht, will es aber unbedingt in Erfahrung bringen. Vor allem bei dem Bergführer werde sich erst in ein bis zwei Monaten zeigen, ob die acht Finger amputiert werden müssen. Derzeit überwiege die Sorge um die Verletzten die Freude an dem trotz allem Geschafften, sagt Marc Grün, „aber so ist es nun einmal am Berg. Er gibt den Ton an und bestimmt, was passiert.“ An seinem grundsätzlichen Ziel, 2023 mit dem Cho Oyu den ersten Achttausender in Angriff zu nehmen, ändern diese negativen Erlebnisse allerdings nichts.