Vielfältig verbunden

Christian Schweizer entwirft in seinem Vortrag ein facettenreiches genealogisches und geistesgeschichtliches Panorama der Verwandtschaftsbeziehungen des Dichters Friedrich Hölderlin zur Walterichstadt.

Vielfältig verbunden

Mit Christian Schweizer (links) ging es auf den Spuren Hölderlins auch in die Murrhardter Gotteshäuser – hier in der Stadtkirche zeigt er die Grabsteine der Familie Haselmaier und erläutert die verwandtschaftlichen Verbindungen. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Für den vor 250 Jahren geborenen Dichter Friedrich Hölderlin hatte die Walterichstadt sowohl im familiären als auch geistigen Sinne eine besondere Bedeutung. Dies zeigt Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer bei seinem stadt- und geistesgeschichtlichen Vortrag mit Führung, dem sich rund 20 vorwiegend weibliche Interessierte angeschlossen haben.

Der Rundgang, zugleich Abschlussveranstaltung der Sommer-Volkshochschule, führt vom Naturparkzentrum in die Stadtkirche, durch den Stadtgarten zur Walterichskirche, anschließend zur ehemaligen Prälatur, dem heutigen Pfarramt Klosterhof, und zurück auf den Marktplatz. Im Zentrum stehen neue Erkenntnisse, die Schweizer durch intensive Recherchen zu Hölderlins Familiengeschichte und Verwandtschaftsverhältnissen in verschiedenen Ahnenlisten und -tafeln sowie Geschichten württembergischer Familien gewonnen hat.

Auf dieser Basis erstellt der Referent ein facettenreiches Zeitpanorama über den familiären und geistigen Hintergrund des Dichters. Mit Stammbäumen veranschaulicht er die überaus vielfältigen, weitverzweigten gesellschaftlich-sozialen Beziehungsnetzwerke der Familien, die zur sogenannten württembergischen Ehrbarkeit gehörten – das gehobene, gebildete Bürgertum. Seit dem Tübinger Vertrag von 1514, der ersten Landesverfassung, und der Reformation bestimmte diese Führungselite, in der der Adel praktisch aufging, über die Landschaft, den Vorläufer des Landtags, die Politik in Württemberg entscheidend mit.

Mitglieder der Ehrbarkeit waren meist studierte Fachleute wie Theologen und Juristen, Mediziner und Wissenschaftler. Mit Heiratspolitik und gegenseitiger Unterstützung organisierten die vielfach miteinander verwandten Familien Ehen und Karrieren. So besetzten sie Verwaltungsämter auf verschiedenen Ebenen, was die Bevölkerung „Vetterleswirtschaft“ nannte, erläutert der Heimatgeschichtsforscher. Wichtige Zeugnisse dafür sind die Äbtetafel sowie Grabdenkmäler bedeutender Persönlichkeiten und Verwandter von Hölderlin in der Stadt- und Walterichskirche.

Die Familie Hölderlin entstammte der gehobenen Bürgerschaft der Reichsstadt Esslingen, wo sie schon 1319 erwähnt wurde. Später kamen die Nachfahren über Reutlingen und Marbach am Neckar nach Nürtingen. In der Geschichte der Familie Hölderlin war die Walterichstadt seit Langem ein wichtiger Bezugspunkt. Als sich deren Hauptzweig nach Oberstenfeld und Großbottwar ausbreitete, kam es 1706 zur ersten direkten Verbindung nach Murrhardt: Sara Dorothea, Tochter des Weilheimer Stadtpfarrers Alexander Hölderlin, heiratete Johann Nicolaus Zügel, Bürgermeister und Müller zu Oberstenfeld, aus der Murrhardter Linie der Müller und Engelwirte. Und 1730 heiratete Friedrich Jacob Hölderlin, Sohn des Klosterhofmeisters Johann Conrad Hölderlin, der das Klostergut in Großbottwar verwaltete, Elisabeth Juliana Haselmaier, Tochter des Murrhardter Prälaten Wilhelm Conrad Haselmaier und seiner Frau Marie Juliane. Deren Grabsteine sind in der Stadtkirche erhalten, dort wird auch die Tochter genannt. Die Familie Haselmaier stammte aus Cannstatt, die Frau des Prälaten kam aus der Familie Distler, deren Vorfahren wiederum mit den Ahnen der Dichter Justinus Kerner sowie Wilhelm Hauff und des Prälaten Joseph Friedrich Schelling verwandt waren.

Nach dem Wunsch der Mutter sollte Friedrich Hölderlin Pfarrer werden.

Friedrich Hölderlins Eltern waren Friedrich Heinrich Hölderlin und die Pfarrerstochter Johanna Christine Heyn. Leider starb sein Vater früh, daher befand sich seine Mutter in einer schwierigen Situation. Zwar heiratete sie den Nürtinger Weinhändler, Finanzbeamten und späteren Bürgermeister Johann Christoph Gok, der sich gut um Friedrich und dessen Schwester kümmerte, er starb jedoch bereits nach fünf Jahren. Friedrich sollte auf Wunsch seiner Mutter Pfarrer werden, fühlte sich selbst aber zum Dichter berufen.

Hölderlins Gedankenwelt bewegte sich laut Schweizer „zwischen Pfarrer und Revolutionär“, da sie stark von der Aufklärung geprägt war. Ebenso von Friedrich Christoph Oetingers Freiheit des Geistes und der Weisheit. Hölderlins Taufpatin war übrigens Oetingers Nichte Anastasia Bilfinger. Folglich weisen Hölderlins Gedichte, wie jenes zum Geburtstag seiner Großmutter, sowohl freiheitlich-aufklärerische als auch pietistisch-christliche Bezüge auf.

Große Bedeutung hatte auch die Verbindung und Freundschaft der „drei großen Tübinger“ Hölderlin, Hegel und Schelling im Zeitgeist der Aufklärung. „Die Walterichstadt war“ nach dem Stadtbrand und Wiederaufbau „am Ende des 18. Jahrhunderts eine auch geistig moderne und zukunftsorientierte Stadt“, betont der Referent. 1801 wurde Joseph Friedrich Schelling Prälat in Murrhardt. Der Vater des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war laut Schweizer ein historisch und klassisch gebildeter Orientalist, der die arabische, syrische und hebräische Sprache beherrschte. Die Verwandtschaften zwischen Schelling, Hölderlin und dem sogenannten Schwäbischen Dichterolymp werden greifbar auf den Inschriften der Grabsteine in der Walterichskirche. Ausgangspunkt ist die „schwäbische Geistesmutter“ Regina Bardili, die mit Carl Bardili verheiratet war. Er entstammte einer protestantischen burgundischen Familie, die im 16. Jahrhundert nach Baden einwanderte. Zu deren Nachfahren gehören neben Hölderlin unter anderen die Dichter Ludwig Uhland und Justinus Kerner sowie die Philosophen Schelling und Georg Friedrich Wilhelm Hegel.

An der ehemaligen Prälatur erzählt Christian Schweizer vom Besuch Hölderlins in Murrhardt im Frühjahr 1803 bei der Familie Schelling. Anlass war die Hochzeit Ende Juni zwischen dem Philosophen und Caroline Schlegel, vorher Ehefrau von August Wilhelm Schlegel. Als sie 1809 an Typhus starb, verfiel Schelling in tiefe Trauer, die er philosophisch in der Schrift „Clara oder über den Zusammenhang der Natur- mit der Geisterwelt“ in Form eines Gesprächs von 1810 verarbeitete. Darin thematisierte er die Walterichswallfahrt und erwähnte auch die Pilgerstaffel, deren Wiederaufbau bereits weit fortgeschritten ist. Das Murrhardter Gespräch zwischen dem Philosophen und dem Dichter fand Ausdruck in Friedrich Hölderlins Überarbeitung der Ode „Der blinde Sänger“.

1849 kam Schelling in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Gustav Schwab, Autor der „Sagen des klassischen Altertums“, auf Hölderlins Besuch in Murrhardt 1803 zurück. „Der Dichter kam zu Fuß querfeldein wie durch Instinkt geführt“, wobei die Strecke von Nürtingen nach Murrhardt über 65 Kilometer betrage, verdeutlicht Schweizer. Ende Mai 1803 schrieb Philosoph Schelling in einem Brief an Hegel: „(...) Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin, er hat sein Äußeres bis zum Ekelhaften vernachlässigt, ist der Welt entrückt und macht einen verwirrten Eindruck.“ Dies deutet darauf hin, dass Hölderlin schon damals unter psychischen Störungen litt, indes ist in der Forschung umstritten, ob er psychisch krank war oder nicht.