Von der Ukraine lernen

Trump ist ein unberechenbares, willkürliches Risiko. Deshalb muss Europa dauerhaft unabhängig werden.

Von Franz Feyder

Stuttgart. - Russlands Überfall auf die Ukraine hat Europa aus seiner strategischen Komfortzone gerissen. Jahrzehntelang verließen sich Regierende von London über Paris bis Berlin auf die USA: militärisch, technologisch, logistisch. Bis Donald Trump kam – und das Vertrauen in die Bündnisfähigkeit Amerikas nachhaltig zerstörte. Das zwingt Europa, sich unabhängig von US-Willkür zu machen. In einer Zeit, in der Kiew zeigt, dass Eigenständigkeit selbst unter widrigsten Umständen möglich ist. Die Ukraine ist unfreiwillig zum Labor europäischer Selbstbehauptung geworden – und damit zum Lehrmeister.

Kiew hat in kürzester Zeit eine Rüstungsindustrie wiederbelebt, die nach dem Beginn des russischen Überfalls 2014 kollabiert war. Es entwickelt, produziert und verbessert in Echtzeit Waffen und Strategien, die seinen Bedürfnissen entsprechen: Drohnen, elektronische Kriegsführung, Integration der Luftabwehr.

Ohne Zugang zu US-Hightech-Systemen entstanden hunderte Lösungen: pragmatisch, digital, kosteneffizient. Europa ist seit jeher in einer bürokratisch Beschaffungslogik verfangen. Die Ukraine lehrt: Wer sich autark machen will, muss Risiken eingehen, Kooperation zulassen und Beschaffung entbürokratisieren. Die Ukraine beweist: Verteidigungsfähigkeit ist vor allem eine Kulturfrage. Das ganze Land ist mobilisiert – digital, psychologisch, wirtschaftlich. Freiwillige Netzwerke übernehmen die Cyberabwehr, Frauen klöppeln Tarnnetze, Bürgermeister organisieren Logistik. Diese Resilienz ist das Gegenteil europäischen Sicherheitsdenkens, das Verantwortung an den Staat delegiert. Europa muss lernen, Sicherheit als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen: Bevölkerungsschutz, Schutz kritischer Infrastruktur, digitale Selbstverteidigung. Ohne innere Wehrhaftigkeit bleibt jede Armee eine leere Hülle.

Ukrainische Start-ups, Universitäten und Ingenieure zeigen, wie zivile Technologie in militärische Fähigkeiten überführt werden – von Drohnenschwärmen über KI-gestützte Aufklärung bis zu improvisierten Elektroniksystemen. Diese Innovationskraft speist sich aus offener Zusammenarbeit von Staat und Gesellschaft. Ihre einzige Leitlinie: Pragmatismus. Europa kann diese Mentalität übernehmen, Innovation in die Breite tragen: Forschung mit Rüstungsprojekten verzahnen, Start-ups als sicherheitspolitische Akteure anerkennen, Datenräume öffnen, die Militärs und Polizei vorbehalten sind. Technologische Souveränität beginnt bei mutiger, dezentraler Erfindung.

Die Ukraine ist in einem militärischen Krieg wie in einem der Narrative. Ihre Fähigkeit, Wahrheit, Emotion und Strategie zu verbinden, mobilisierte globale Solidarität. Europa ringt mit Sprachlosigkeit: zu viele verschiedene Narrative, zu wenig Selbstbewusstsein. Strategische Autonomie heißt, den eigenen politischen Kompass zu finden: Werte benennen, Bedrohungen nicht relativieren, Verantwortung nicht auslagern.

Die Ukraine führt – im Krieg, in Diplomatie und Entwicklung. Europa lebt im Luxus, sich vor Entscheidungen zu drücken. Wer unabhängig sein will, muss führen. Das bedeutet: gemeinsame Verteidigung nicht nur zu fordern, sondern zu finanzieren, Rüstungskooperation zur europäischen Pflicht zu machen, die Fähigkeit entwickeln, selbst abzuschrecken.

Souveränität ist kein Zustand, sondern ein mutiger, kreativer Prozess. Europas Herausforderung ist, diese Lektion noch im Frieden zu lernen. Strategische Autonomie wird nicht geschenkt. Wer verstehen will, wie Unabhängigkeit aussieht, muss nach Kiew: Dort wird die Zukunft einer souveränen europäischen Sicherheit bereits erprobt.