Von meditativ bis ekstatisch

Jürgen Essl, Professor für Orgel an der Musikhochschule Stuttgart, präsentiert spektakuläre Komposition und Improvisationen beim fünften Konzert des Internationalen Orgelzyklus in der Murrhardter Stadtkirche.

Von meditativ bis ekstatisch

Jürgen Essls Konzertprogramm entlockt der Mühleisen-Orgel Klangfacetten jenseits der üblichen Hörgewohnheiten. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Die Mühleisen-Orgel der Murrhardter Stadtkirche ist ein wahres Wunderinstrument mit fast unerschöpflichen musikalischen Möglichkeiten. Dies zeigt der renommierte Organist, begnadete Komponist und Improvisator Jürgen Essl beim fünften Konzert des Internationalen Orgelzyklus. Die vielen Zuhörer in der Stadtkirche erleben eine Fülle von bisher erst wenig gehörten Kombinationen von Registern und den daraus entstehenden Klangfarben und -facetten. Sie wirken teils ekstatisch und überwältigend, teils aber auch transzendent und meditativ.

Im Zentrum des kontrastreichen und spannungsvollen Programms stehen zwei eigene Werke des Professors für Orgel an der Musikhochschule Stuttgart. „Recollections“, also Erinnerungen, ist eine dreiteilige Komposition, in der Jürgen Essl Szenen aus dem Leben des Propheten Elias musikalisch darstellt. Angeregt dazu habe ihn Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Elias“. „Diese Musik geht mir sehr nahe, darum trage ich Bilder von der Figur des Propheten in mir und habe daraus musikalische Ideen entwickelt“, erklärt der Interpret und Tonschöpfer.

In der kurzen Einführung fragt Kantor Gottfried Mayer Jürgen Essl, ob in dessen Kompositionen bestimmte Themen vorkommen. „Ich verwende und verarbeite verschiedene musikalische Elemente, die immer wieder auftauchen“, erwidert er, so auch in den drei Szenen der „Recollections“. Die erste illustriert akustisch den Bach Kerit, an den sich Elias zurückzog. In sie flossen Impressionen von einer Israelreise ein, auf der Essl „eine Rückzugsoase in einem Seitental des Jordan“ entdeckte, „eine tropische Idylle“ mitten in der Wüste.

Jürgen Essl schafft ein Mosaik aus Klangbildern und Assoziationen.

Daraus kreiert er ein Mosaik aus verschiedenartigen, innovativ kombinierten Registern, die ein breites Klangfarbenspektrum entfalten. Damit gestaltet er den Kontrast zwischen der flirrenden Hitze der Wüste und der idyllischen Stimmung in der Oase. Hinzu kommen musikalisch skizzierte Naturgeräusche wie das Plätschern des Bachs oder Vogelstimmen. Die zweite Szene veranschaulicht die in der Bibel erzählte Himmelfahrt des Propheten Elias auf einem feurigen Wagen mit Feuerrossen: „Ein ekstatisches Erlebnis“, wobei Essl die Grenzen der Möglichkeiten der Orgel auslotet. Dazu entfaltet er ein Klangspektakel ohnegleichen: Lautstarke, dissonante Akkordkaskaden malen akustisch Bilder entfesselter überirdischer Urgewalten. Kaum hat Elias die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten und den himmlischen Feuerwagen bestiegen, lodern dessen Flammen hell und hoch auf, als die feurigen Rosse in Lichtgeschwindigkeit ins Jenseits galoppieren. Hingegen herrscht in der dritten Szene eine gleichsam transzendente Stimmung. Darin stellt der Komponist die Überquerung eines Flusses als Symbol für den Übergang vom irdischen Leben in die Ewigkeit dar, wovon Elisa berichtet, der Nachfolger von Elias. Schwebende, langsam verhallende Wohlklänge vermitteln eine Atmosphäre des himmlischen Friedens und der Freude in der Ewigkeit.

Auf Nachfrage von Kantor Mayer erläutert Jürgen Essl in der Einführung auch, wie er improvisiert: „Diese Jetztzeitmusik entsteht in freier Assoziation und spontan aus dem Moment heraus, im Augenblick des Spiels, dabei versuche ich, aus dem Inneren heraus zu spielen.“ Der Organist vergleicht diese Form der Improvisation mit den Ragas in der indischen Musik, wobei die Musiker sich in der Atmosphäre des Stücks improvisierend bewegen. „Entscheidend ist für mich die musikalische Botschaft, wobei etwas im Raum und in der Kommunikation mit dem Publikum entsteht.“ Und: „Ich sammle meine Ideen durchaus am Instrument, es ist für mich Keimzelle für Komposition und Improvisation.“

Die assoziativen Texte der Tagebücher des 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten ungarischen Schriftstellers Imre Kertész (1929 bis 2016) mit Gedanken über Politik, Kunst, Musik und Literatur regten Jürgen Essl zu drei Improvisationen an. In „Begegnung“ präsentiert er eine Abfolge teils exotisch klingender, flüchtiger und geräuschartiger Töne und Klänge, die wie Flüstern, Gemurmel und Gespräche im Hintergrund klingen. In „(Innere) Einkehr“ ruft er eine meditative Stimmung durch abwechselnd hohe und tiefe Haltetöne, verspielte Wiederholungen und Veränderungen verschiedener Motive und Figuren hervor. Und in „(Innerer) Tumult“ verdichten sich eine Vielzahl schwebender Töne und Akkorde aus verschiedenen Registern zu einer dissonanten, monumentalen Klangstruktur, bevor sie immer harmonischer und leiser werden und schließlich verklingen. In starkem Kontrast zu diesen faszinierenden zeitgenössischen Klangkunstwerken stehen zwei Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Feierlich erhaben, aber auch dramatisch schildert die Ouvertüre zum Oratorium „Paulus“ mit der bekannten Melodie des Kirchenlieds „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ als Leitthema, das Philipp Nicolai 1599 schrieb, das Leben des Missionars und Theologen des Urchristentums. Ein echter Ohrenschmeichler ist das Thema mit Variationen in D-Dur, dessen choralartige Melodie Gottvertrauen und Zuversicht ausstrahlt; die Variationen wurden teils von Johann Sebastian Bachs Tonkunst inspiriert.

Den krönenden Abschluss bildet César Francks Grande Pièce Symphonique Opus 17, eine spätromantische, orchestrale Orgelfantasie. Vielschichtige Melodiebögen kontrastierender Themen erzeugen feierliche und hoffnungsvolle, aber auch dramatisch aufgewühlte Stimmungen, die indes in eine triumphal jubilierende Schlusskadenz münden.

Mit stürmischem Beifall danken die begeisterten Zuhörer Jürgen Essl für das grandiose Hörerlebnis.