Vom „Slipperina“ bis zum hybriden Urlaub: Plötzlich soll alles zwei Dinge zugleich können oder darstellen. Was bedeutet das, ist es wirklich neu und wo liegen die Grenzen?
Passt zu dem gegenwärtigen Lebensgefühl, sich nicht entscheiden zu müssen: Der Hoka Bondi Mary Jane ist einer der neuen Sneaker Hybriden.
Von Eva-Maria Manz
Es geht nicht nur um Automotoren. Die Hybriden sind Teil des Stadtbilds, sie kombinieren Verbrenner und Elektroantrieb, erfreuen sich großer Beliebtheit bei Autofahrern. Hybrid werden aber zunehmend noch ganz andere Dinge genannt. Meist handelt es sich dabei um Mischformen oder Zusammensetzungen aus Verschiedenartigem. Und das scheint besonders gegenwärtig zu sein.
Seit der Coronapandemie erleben viele bei der Arbeit hybride Besprechungen, an denen sowohl Mitarbeitende im Büro teilnehmen können als auch solche, die von zu Hause aus arbeiten. Das Büro selbst soll zudem ein hybrider Raum sein, multifunktional, Kommunikation sowie Rückzug ermöglichend. In Unternehmen herrscht eine hybride Führungskultur, ein Stil, der die Führung von Teams ermöglicht, in denen manche im Büro, andere zu Hause arbeiten, sich aber keiner abgehängt fühlen soll.
Reiseblogs informieren ihre Leser über den hybriden Lebensstil, der beinhalte, eine Zeit lang keinen festen Wohnsitz zu haben, Arbeiten und Reisen zu verbinden.
Von hybrider Männlichkeit ist die Rede, Geschlechterklischees sollen aufgelöst werden
Hybrides Training im Sport soll doppelt so schnell fit machen – nämlich indem Ausdauer- und Kraftsportarten einander ergänzen. Unter Hybrid Food verstehen Kochliebhaber die Kombination aus verschiedenen Küchenkulturen und Kochrichtungen, eine Art Weiterentwicklung der Fusionsküche aus den 90ern angeblich.
Wohnungen werden hybrid entworfen, sie sollen Raum für Arbeiten und Leben zugleich bieten. Wände sollen modular sein, um der jeweiligen Lebenssituation angepasst werden zu können: mit Kinderzimmer oder ohne. Sogenannte Mobile Homes auf Campingplätzen sehen heute aus wie Ferienhäuser, Camping und normales Wohnen verschmelzen, Glamping wird das komfortablere Abenteuer genannt – ein Mischwort aus Glamour und Camping.
Als hybrid bezeichnen manche auch die Geschlechter, Mann oder Frau, trans oder divers – alles dynamisch. Von hybrider Männlichkeit ist die Rede, wenn Geschlechterklischees aufgelöst werden sollen.
Es entspricht dem gegenwärtigen Lebensgefühl, sich nicht entscheiden zu wollen. Lieber möchte man beides haben oder jederzeit hin und her wechseln können. Hybridität bedeutet die spielerische Auflösung der Binaritäten, die Postmoderne will nun einmal alles dekonstruieren.
Ballerina und Sneaker werden zu einem Sneakerina, Slipper und Ballerina zu Slipperina
Besonders anschaulich zeigt sich das in der Mode. „Hybriddesigns aus Sneaker und Slipper, Slipper und Ballerinas, genannt Slipperina, Loafer mit heruntergetretener Ferse“, beschreibt die „Süddeutsche Zeitung“ die Trends bei den Schauen in Mailand kürzlich. Sneaker, die zugleich Loafer, Ballerina oder Mary Jane sein wollen, sieht man überall, zuletzt im bejubelten Hoka Bondi Mary Jane, präsentiert bei der New York Fashion Week. Als Trendjacken werden von den Modejournalisten diesen Herbst Kombinationen aus Mantel und Blouson gefeiert. Tretorn, ein schwedischer Hersteller hochwertiger Outdoorkleidung, wirbt aktiv mit seinen Hybridschuhen, etwa dem beliebten Modell Garpa Hybrid: „Perfekt für Abenteuer in der Stadt und anspruchsvolle Wanderungen“, heißt es auf der Internetseite.
Wir sollen für alles jederzeit gerüstet sein: den Stadtspaziergang mit Theaterbesuch und die Wanderung. Komfort soll offenbar nicht zulasten von Originalität gehen. Apropos Theaterbesuch. Auch wer öfter ins Theater geht, fragt sich, warum seit einigen Jahren Vermischungswahn zu herrschen scheint: Die Gattungen verschmelzen. Kaum ein profilierter Roman ist noch vor einer Umschrift zum Theaterstück sicher. Kafka, Tolstoi, Thomas Mann oder Hans Fallada: Epische Texte dienen als Grundlage von Neufassungen fürs Theater, die, und darin liegt wohl die Erklärung, viel Spielraum für Interpretation lassen. Hybridtexte.
Kultur lebt seit jeher von Hybriden – in der Popmusik beispielsweise bei der Entstehung von Stilrichtungen wie Hip Hop. Und die globalisierte Gesellschaft ist geprägt von hybriden Identitäten, zwischen den Kulturen, bedingt durch Migration und kulturellen Wandel. Sie fordern Gesellschaften und Individuen heraus. Unterschiede erzeugen Spannungen, an denen der Mensch aufgrund seines Intellekts interessiert ist. Manche sehen in der kulturellen (Re-)Produktion dieser Friktionen und ihrer Beherrschung sogar das, was ihn vom Tier unterscheidet.
Die Chimäre bei Homer, Kafkas Käfer, Mörikes schöne Lau, – den Menschen treibt die Sehnsucht nach Verwandlung
Mischwesen und -formen gehören zur Kulturgeschichte seit der Steinzeit, denkt man etwa an den 40 000 Jahre alten Löwenmenschen aus dem Lonetal, eine Skulptur aus Mammut-Elfenbein, eine Mischform aus Mensch und Höhlenlöwe. Im „Morgenstern“-Roman des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgard bezeichnet der Erzähler diesen Löwenmenschen als das Ergebnis einer Kulturtechnik, die er Verknüpfung nennt. Der Versuch des Menschen, sich mit dem Tier oder Elementen der Natur, von der er sich durch sein Bewusstsein entfremdet hat, wieder zu vereinen.
Die Chimäre bei Homer, Kafkas Käfer, Mörikes schöne Lau, der Homunkulus in Goethes Faust: Den Menschen bewegt eine Sehnsucht nach Verwandlung, seit jeher hat er sich Hybridformen ausgedacht. War nicht auch Jesus ein Hybrid: Gott in Menschengestalt, um uns zu erlösen?
Die Hybridform fasziniert, weil sie für vieles stehen kann, für den Wunsch nach Verbindung oder danach, das Tier in uns zu bändigen, das Schreckliche zu bannen durch Umgang damit. Die gegenwärtige hybride Alltagskultur könnte auch als Versuch verstanden werden, mit dem Eindruck ständiger Oppositionen umzugehen, politisch wie symbolisch. Wer die Gegensätze nicht aushält, merzt sie aus, verschmilzt sie zu etwas Neuem, das ihn diese Welt ein klein wenig besser aushalten lässt. Eine alte Kulturtechnik, auf die wir uns erneut besinnen. Die Hybriden sind ein Kitt, der die entfremdeten Dinge und Umstände miteinander vereint und Harmonie herstellt, eine Brücke zu etwas Neuem entstehen lässt.
Die Hybriden sind ein Kitt, der die entfremdeten Dinge miteinander vereint
Fragwürdig wird das erst in den Grenzbereichen des Synthetisierbaren. Das zeigt sich an dem schwierigen Wort des hybriden Krieges. Hybride Kriegsführung bedeutet völkerrechtlich keinen klaren Unterschied mehr zwischen den feststehenden Zuständen Krieg und Frieden. Frieden ist aber nicht Krieg und umgekehrt.
Nicht alles lässt sich miteinander verschmelzen oder dekonstruieren. Etwas kann nicht zugleich sein Gegenteil sein, wenn es denn für sich genommen überhaupt noch existieren will.