Ziel: Konzertfreigabe unter freiem Himmel

Patrick Siben und die Stuttgarter Saloniker laden zur Kulturkundgebung im Garten der Villa Franck in Murrhardt ein. Neben einer Ansprache des Ensembleleiters spielt das Orchester auch das eine oder andere Stück.

Ziel: Konzertfreigabe unter freiem Himmel

So idyllisch kann eine politische Kulturkundgebung aussehen: Szene einer Veranstaltung von Patrick Siben und seinen Stuttgarter Salonikern im Garten der Villa Franck in Murrhardt. Fotos: A. Becher

Von Renate Schweizer

MURRHARDT. Nein, es war kein Konzert, beileibe nicht – Konzerte sind ja verboten. Es war eine angemeldete Demonstration unter Polizeischutz, ganz genau eine CoCoCo-Kundgebung: eine Kundgebung für ein Coronaübertragungsfreies-Concert-Conzept. Unter Einhaltung, das ist ja klar, sämtlicher momentan gültiger Bestimmungen der Coronaverordnung. Schauplatz des Geschehens: Der Rosengarten der Villa Franck in Murrhardt an einem sonnigen Sonntag im Mai.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Konzept ging voll auf. Der Spaß begann schon am Eingang zum Demonstrationsgelände: Ordner in alten Feuerwehruniformen und die beiden Töchter des Versammlungsleiters wiesen die – meist sonntäglich gewandeten und mit farblich passenden Gesichtsmasken versehenen – Demonstranten freundlich-energisch ein: Hier bitte Name und Adresse eintragen, Abstand halten, den gekennzeichneten Einbahnverkehr durch den Garten beachten, freie Platzwahl auf den locker verteilten Stühlen im Garten, und ist der Platz erst eingenommen, bitte nicht mehr unnötig herumlaufen. „Wenn Sie erst sitzen, dürfen Sie die Maultasche runternehmen“, erklärt Kosima, die ältere Tochter des Chefsalonikers. Und Philippa, ihre jüngere Schwester, nickt dazu bedeutungsschwer mit dem Kopf. („Maultasche“ muss ein regional gefärbter Versprecher sein, denn bekanntlich können ja Kinder dieses Alters noch keine Ironie. Oder doch?) Nicht nur die Polizei, auch die zu Ordnern bestellten Erwachsenen passen auf wie die Schießhunde, dass alles läuft, wie es muss, und alle laufen, wie sie sollen.

Als dann schließlich alle Demonstranten ihr Plätzchen gefunden haben, gehen Musiker und Ordner mit Meterstäben bewaffnet von Platz zu Platz, messen Abstände aus und überprüfen Haushaltszugehörigkeiten. Alles okay – es kann losgehen. Und das tut es mit „Wien bleibt Wien“, Salonmusik vom Allerfeinsten (Komponist Johann Schrammel – echt, der hieß so). Die Musik passt ganz wunderbar in einen frühsommersonntäglichen Rosengarten.

Danach begrüßt Patrick Siben – mit Bauarbeiterhelm über dem Lockenkopf und Feuerwehrjacke über dem schwarzen Konzertfrack – die Demonstrationsteilnehmer und erklärt, worum es geht: „Es geht darum, kundzutun, dass es keinen Grund gibt, Konzerte unter Coronabedingungen und unter freiem Himmel nicht zu genehmigen. Manche Musiker, die ich heute um Mitwirkung gebeten habe, haben abgesagt, weil sie selbst Risikogruppe sind oder mit Menschen zusammenleben, die besonderen Schutz brauchen. Das ist gut und das zeigt Verantwortungsbewusstsein. (...) Wir fühlen uns bevormundet. Wir wollen Eigenverantwortung. Wir erklären den Meterstab zum Maßstab der Vernunft. Wir können selber messen!“

Weiter geht es mit einem Querflötensolo. Die Querflöte, das ist ja inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen, ist das gefährlichste aller Instrumente hinsichtlich der Infektiosität: Der Atemstrom des Flötisten geht nämlich mit voller Absicht, gezielt und kraftvoll bis zu vier Meter weit über das Blasloch des Instruments hinweg mitsamt allen Krankheitserregern, die er möglicherweise enthält. Vermutlich war’s diesem Umstand geschuldet, dass die Querflöte ganz allein für sich am anderen Ende des Gartens ihre magische Wirkung entfaltete: Federleicht wie verliebte Schmetterlinge wehten die barocken Flötentöne (Telemann) durch den Garten, umspielten Hahnenfuß und Pusteblumen, schlängelten sich durch die Säulen des klassizistischen Wandelgangs der Villa, streichelten zärtlich die musikentwöhnten Ohren des verzückten Publikums (pardon, der Demonstrierenden natürlich) und zogen Mundwinkel nach außen-oben wie mit einem Feenstab. Nebenan klimperte einer bei offenem Fenster die „Ballade pour Adeline“, und wäre das ein Konzert gewesen, hätte es vermutlich ein bisschen gestört. War aber kein Konzert, sondern eine Demo – da gehört ein wenig Hintergrundlärm zum Programm, und so unterstrich der unbekannte Klavierspieler, vermutlich ohne es zu wollen, den Demonstrationscharakter des Events. So ging es weiter: Das politische Anliegen, Konzertfreigabe unter freiem Himmel nach Maßgabe der Coronaverordnung bis spätestens ab 1. Juni, eloquent und launig vorgetragen in Variationen vom Kapellmeister der Saloniker und Hausherrn der Villa, Patrick Siben, unterbrochen von Musik. „Wir halten Abstand und wir können alles tun: Essen und Trinken, Feiern und Arbeiten, Träumen und Lachen, Leben und Sterben“, rief der Versammlungsleiter zum Schluss, und dann spielten die Musiker „Stormy weather“ von Duke Ellington. Siben am Klavier, tiefenentspannt, singend, das Söhnchen auf dem Schoß und eine der Töchter an der rechten Schulter, cooool (mit mindestens vier o’s), die Bläser, gelassen groovend das Schlagzeug und die Geigen weinten... – die Berichterstatterin ist bereit, einen heiligen Eid zu schwören, dass selbst den stoischen Polizisten, die ihre Pflicht am Gartenzaun taten, die Beine zuckten. Ein Maisonntag im Garten, der schöner nicht sein könnte – wir wollen mehr davon, und wenn das jetzt CoCoCo-Kundgebung heißen muss, damit es möglich wird, dann wollen wir eben CoCoCo-Kundgebungen.

Ziel: Konzertfreigabe unter freiem Himmel

Will es nicht einfach so hinnehmen, dass wegen Corona unendlich viele Musiker zur Untätigkeit verdammt sind: Patrick Siben.