Zwischen Sorge und Hoffnung

Anlässlich des heutigen Weltfrühgeborenentags berichtet das Diak Schwäbisch Hall über die Geschichte einer Murrhardter Familie. Ihre Tochter Mia-Sophie wurde 2019 mit einem Gewicht von 310 Gramm geboren. Ein Start, der viel Unterstützung bedurfte.

Zwischen Sorge und Hoffnung

Sabine Linßer mit ihrer Tochter Mia-Sophie. „Sie ist ein Frechdachs, eine Kämpferin und ein kleines, großes Wunder“, sagen ihre Eltern. Foto: U. Arslan

MURRHARDT/SCHWÄBISCH HALL (pm). Wenn der Start ins Leben viel zu früh beginnt: In der 24. Schwangerschaftswoche mit 310 Gramm geboren, bedeutet einen schweren Start ohne Gepäck und Wegzehrung. Moderne Frühgeborenenmedizin und -pflege, wie am Diak-Klinikum in Schwäbisch Hall, setzt alles daran, das Überleben der Kleinsten zu sichern und Folgeprobleme der frühen Geburt zu verringern. Damit verbessert sich die Lebensqualität der Kinder heute deutlich und Eltern können frühzeitig eingebunden und begleitet werden.

Den Tag von Mia-Sophies Geburt im vergangenen Jahr wird Mutter Sabine Linßer niemals vergessen, schreibt die Klinik in ihrem Bericht. Von Anfang an war klar, das wird keine leichte Schwangerschaft. Die Murrhardterin leidet unter hohem Blutdruck und wird deshalb von Anfang an engmaschig betreut und medikamentös eingestellt. Zunächst wurde sie im Schwäbisch Haller Diak-Klinikum stationär überwacht, Chefarzt Andreas Holzinger war jedoch schnell klar, dass sich kurz vor dem Erreichen der 24. Schwangerschaftswoche eine viel zu frühe Geburt ankündigte. Aus diesem Grund wurde die werdende Mutter unverzüglich mit dem Rettungswagen ins Universitätsklinikum Ulm gebracht.

Am 7. Mai musste dann alles ganz schnell gehen, denn die Situation von Mutter und Kind war nun für beide lebensbedrohlich. „Im Moment der Entscheidung war ich alleine, Mia-Sophie und ich hatten bis dahin gekämpft, jeder Tag zählte, ich konnte nicht darüber nachdenken, wie geht es für mich weiter? In diesen Minuten war mir tatsächlich egal, was mit mir passiert,“ meint Sabine Linßer heute, „ich wollte nur, dass mein Kind überlebt.“

Um 11.43 Uhr holte man Mia-Sophie dann per Notkaiserschnitt auf die Welt. „Ich wusste nicht, ob mein Kind lebt, ob ich einen Sohn oder eine Tochter geboren hatte, und ich war so unendlich müde,“ erinnert sie sich. Es fällt der jungen Mutter sichtlich schwer, über die damalige Situation zu sprechen. „Mein Mann war kaum im Klinikum und bei mir, da kam ein medizinisches Team mit einem Inkubator, beglückwünschte mich zu meiner Tochter, und mit diesen Worten konnte ich endlich einschlafen.“

Wenn sich die Schwangerschaft von heute auf morgen ändert, bedeutet das für die Eltern viele Sorgen. Mia-Sophie wog bei ihrer Geburt 310 Gramm, eine Handvoll Leben am seidenen Faden. Auch für Wolfgang Lindner, kommissarischer Leiter der Sektion Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Uniklinikum in Ulm, war Mia-Sophies Geburt keine gewöhnliche Situation: „In Ulm betreuen wir zwar knapp zehn Frühgeburten unter 500 Gramm im Jahr, das sind etwa fünfmal so viele, wie sonst durchschnittlich in deutschen Perinatalzentren versorgt werden. Diese Frühchen haben aber einen sehr langen Klinikaufenthalt, meist viele Monate, vor sich und die Eltern erleben eine lange Zeit der Ungewissheit. Allein die Blutentnahme bei einem sehr geringen Blutvolumen dieser Neugeborenen von zirka 25 Millilitern stellt uns vor gewisse Herausforderungen.“

Schon die Blutabnahme bedeutet eine gewisse Herausforderung.

Für Eltern sind die Räume einer modernen Neonatologie zunächst mehr als befremdlich. Medizinische Geräte überall, gedämpftes Licht, Alarmsignale und andere Frühchen in Inkubatoren. Dort erinnert nichts an ein vielleicht schon liebevoll vorbereitetes Kinderzimmer zu Hause. Solche sogenannten Perinatalzentren, die in verschiedene Level kategorisiert werden, sichern heute die Behandlung und Betreuung der Neu- und Frühgeborenen auf höchstem Niveau.

Früh werden die Eltern in den Stationsablauf mit einbezogen. Geräusche und Monitore werden erklärt und plötzlich ist man zwischen Schläuchen, Monitor und Inkubator „zu Hause“. In Kinderkliniken wie dem Diak, mit einem Perinatalzentrum Level 1 der höchsten Kategorie, können Eltern nach Möglichkeit auch direkt auf der Station bei ihrem Kind übernachten. Das ermöglicht eine aktive Einbindung vom ersten Tag an.

„Das eigene Kind zu spüren, ist überwältigend.“ Nach 30 Tagen konnten Mia-Sophies Eltern sie zum ersten Mal auf den Arm nehmen. Ende Juni wurde ihre Tochter dann in die Neonatologie nach Schwäbisch Hall verlegt. Mittlerweile wiegt sie 530 Gramm. Mit dem Umzug in die Schwäbisch Haller Klinik ist Mia-Sophie näher an ihrem Heimatort Murrhardt. Für die Eltern und Großeltern ist das eine große Erleichterung. Dennoch spürt Sabine Linßer jeden Tag die gleichen Sorgen und Ängste. „Manchmal fällt man ganz tief, für mich blieb das Leben stehen.“ Ein ständiges Gefühl der Lähmung begleitet sie. An einen Tag im September erinnert sie sich ganz genau. „Mia-Sophie ging es nicht gut, sie hatte eine Infektion. Als ich auf die Station kam, hatten sich die Ärzte gerade entschlossen, sie zu intubieren, und ich dachte nur, mein Kind darf jetzt nicht sterben. Dieser Moment war für mich schlimmer als die Geburt.“

„In der Frühgeborenenmedizin werden Prozesse eingeübt und sind routiniert, im Schwäbisch Haller Perinatalzentrum arbeiten wir Neonatologen eng mit der Frauenklinik und deren Experten für Risikogeburten zusammen. Entscheidend ist aber auch die hervorragende Zusammenarbeit von Pflege und Medizin, gerade in einer aufkommenden Risikosituation“, meint Diak-Chefarzt Andreas Holzinger im Rückblick auf Mia-Sophies Infekt. Klinikseelsorgerin Christine Michael gehört ebenfalls zum Team der Kinderklinik und kennt solche Situationen sowie ihre Auswirkungen auf die betroffenen Eltern. In diesen Momenten übernimmt sie wichtige Aufgaben: zuhören, verstehen oder auch das Merken von Dingen, denn in Sorge und Angst kann man sich nur schwer konzentrieren.

Zum Jahreswechsel 2019/2020 können die Linßers – nach mehr als sieben Monaten – endlich zu dritt nach Hause gehen. Die Klinik hat einen Pflegedienst organisiert, der Mia-Sophie auch zu Hause betreut und bei der Pflege unterstützt. Am Anfang ist das für die junge Familie noch sehr befremdlich, aber schon bald ist die Hilfe unverzichtbar. „Als die Coronapandemie begann, wollte ich mit Mia-Sophie nicht einkaufen oder unter Menschen, durch den ambulanten Pflegedienst war und bin ich wirklich sehr entlastet.“

Regelmäßig kommen Mia-Sophie und ihre Eltern nun weiterhin ans Diak-Klinikum in das Sozialpädiatrische Zentrum zur Betreuung und Vorsorge. Dort werfen Ärzte und Therapeuten einen Blick auf die Entwicklung der Kinder und können gegebenenfalls bei Verdacht auf eine Erkrankung oder Entwicklungsverzögerung schnell reagieren.

Jeder noch so kleine Fortschritt macht Mut, da sind sich beide Eltern sicher: „Auch wenn Mia-Sophie Entwicklungsverzögerungen zeigt, das Zusammensein mit unserem Kind stärkt uns jeden Tag. Sie ist ein Frechdachs, eine Kämpferin und ein kleines, großes Wunder.“

In Deutschland sind es jährlich ungefähr 65000 Kinder, die zu früh geboren werden

Der Weltfrühgeborenentag findet jedes Jahr am 17. November statt und macht weltweit auf die Belange von Frühgeborenen und ihren Familien aufmerksam. Deutschlandweit werden jährlich etwa 65000 Kinder zu früh geboren. Demnach ist eines von zehn Neugeborenen ein Frühchen.

Steigende Zahl an Frühgeborenen: Wolfgang Lindner vom Uniklinikum in Ulm bestätigt eine steigende Zahl an Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm. „Waren das früher zirka 110 pro Jahr in Ulm, sind es nun knapp über 130 Frühgeburten mit einem Gewicht unterhalb dieser Gewichtsgrenze“, berichtet er. Gründe dafür können unter anderem Stress, psychische Belastungen oder starke Ängste sein. Zum Beispiel Frauen auf der Flucht oder in einem Asylverfahren können deshalb stärker von einer Frühgeburtlichkeit betroffen sein. Einen Anstieg infolge des Coronavirus Sars-CoV-2 sieht der Mediziner bisher jedoch eher nicht.

Klinische Kooperationen helfen entscheidend: Holzinger und Lindner arbeiten beide eng in der Arge Ulm zusammen, einer neonatologischen Arbeitsgemeinschaft, die bereits 1986 in Ulm ins Leben gerufen wurde. Sie ist ein Zusammenschluss von Kinderkliniken in Ost-Württemberg/Oberschwaben (Schwäbisch Hall, Aalen, Heidenheim, Göppingen, Ravensburg und Friedrichshafen). Das Ziel ist die Optimierung der Betreuung von Risikoschwangeren und sehr unreifen Frühgeborenen in dieser Region mit ungefähr 16000 Neugeborenen pro Jahr. Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm, die im Bereich der Arge Ulm geboren werden, haben im nationalen und internationalen Vergleich hohe Überlebensraten. Die Vorteile für Eltern und Kinder bestehen darin, dass Schwangere mit einer sehr früh drohenden Geburt aus der Region in das Ulmer Perinatalzentrum verlegt werden. Dort wird versucht, die Schwangerschaft möglichst zu verlängern. Die Versorgung des Kindes nach der Geburt erfolgt dann zunächst in Ulm, ein Transport des Frühgeborenen direkt nach der Geburt kann so praktisch immer vermieden werden. Wenn die Frühgeborenen einige Wochen alt und stabil sind, kann man sie in die heimatnahen Kliniken der Arge verlegen. Das passiert in der Regel in Begleitung durch eine Pflegekraft und einen Arzt zur Weitergabe aller notwendigen Informationen.

Weitere Informationen dazu findet man auf www.perinatalzentren.org.