Forscher warnen vor Mega-Beben

Die akute Erdbebengefahr für Istanbul wird immer größer

Istanbul liegt an einer Grenze von Erdplatten. Ausgerechnet an dieser Stelle hakt es im Untergrund. Das schafft ein hohes Risiko. Forscher warnen vor einem überfälligen starken Beben.

Völlig zerstört ist dieser Wohnblock in der Innenstadt von Antakya nach dem Beben vom 11. Februar 2023. Stehen Istanbul bald ähnliche Zerstörungen bevor?

© Boris Roessler/dpa

Völlig zerstört ist dieser Wohnblock in der Innenstadt von Antakya nach dem Beben vom 11. Februar 2023. Stehen Istanbul bald ähnliche Zerstörungen bevor?

Von Markus Brauer/dpa

Die geologischen Spannungen im Untergrund südlich der türkischen Mega-City Istanbul steigen einer aktuellen geologischen Analyse zufolge weiter an. Damit erhöht sich die Gefahr eines starken Erdbebens in den kommenden Jahren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung unter Federführung des GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam.

Ausgangspunkt war das Erdbeben der Magnitudenstärke 6,2 am 23. April 2025 im Marmarameer, das südlich und südwestlich von Istanbul liegt. Die Forscher betrachteten das Erdbebengeschehen seit 2007, um eine Einschätzung der Vorgänge im Untergrund vorzunehmen. Die Studie einer Gruppe um Patricia Martínez-Garzón vom GFZ ist in der Fachzeitschrift „Science“ erschienen.

Platten driften aneinander vorbei, doch es hakt

Unter dem Marmarameer, das zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer liegt, befindet sich die Marmara-Verwerfung als westlicher Teil der Nordanatolischen Verwerfungszone an zwei tektonischen Platten. In dieser Zone driftet die kleine anatolische Platte an der großen Eurasischen Platte in westlicher Richtung vorbei.

Je nach Gesteinsart verhaken sich die beiden Platten in verschiedenen Abschnitten der Verwerfung unterschiedlich stark. In Regionen mit geringerer seismischer Aktivität lösen sich schwächere Verhakungen durch leichtere, kaum spürbare Erdbeben. In Gebieten mit sehr rauen Bruchflächen sind die Verhakungen intensiver, so dass sich größere Spannungen aufbauen können. Ein solches Gebiet liegt unterhalb der Prinzeninseln südlich von Istanbul.

Hohe Magnitudenstärke

Die Geologen untersuchten die Dynamik der Bruchzone und die Nachbebenmuster auf mehreren zeitlichen Skalen zwischen 2007 und 2025. Auffällig ist dabei die Tendenz der Erdbeben mit einer Magnitudenstärke von 5,0 oder mehr:

  • 2011 gab es ein Beben der Stärke 5,2, 2012 ein Beben der Stärke 5,1, jeweils im westlichen Teil des Marmarameers.
  • Am 26. September 2019 bebte die Erde im zentralen Marmarameer mit einer Stärke von 5,8.
  • In diesem Jahr erschütterte ein Beben ganz in der Nähe mit einer Stärke von 6,2 die Region.

„Unsere Ergebnisse zeigen eine langfristige Entwicklung teilweiser Aktivierung der Marmara-Verwerfung, die sich ostwärts in Richtung des verhakten Prinzeninseln-Segments südlich von Istanbul bewegt“, erklärt Martínez-Garzón.

Im Untergrund bauen sich enorme Spannungen auf

Im westlichen und zentralen Teil des Marmarameers zeichneten die Messgeräte zahlreiche schwächere Beben auf - ein Zeichen dafür, dass sich seismische Spannungen nach relativ kurzer Zeit lösen. In den vergangenen fünf Jahren gab es zahlreiche schwächere Beben etwas östlich des Epizentrums des 6,2er-Bebens.

Noch weiter östlich, unterhalb der Prinzeninseln, gab es hingegen kaum Beben. Dies weist für die Wissenschaftler darauf hin, dass sich im Untergrund südlich von Istanbul große tektonische Spannungen aufbauen. „Die Marmara-Verwerfung muss als kritisch geladen angesehen werden“, warnt Marco Bohnhoff vom GFZ, Mitautor der Studie. „Das Beben vom April hat da nur unwesentlich Entlastung gebracht.“

Die Marmara-Verwerfung ist der einzige Abschnitt der Nordanatolischen Verwerfung, in dem es seit 1766 kein Erdbeben mit einer Stärke von 7,0 oder mehr gegeben hat. Die Forscher vermuten deshalb, dass das nächste stärkere Beben südwestlich oder südlich von Istanbul auftreten könnte. „Dies könnte ein Ereignis der Stärke 6 sein oder aber ein Vorläufer, der dann ein noch größeres Erdbeben auslöst“, erläutert Bohnhoff.

Mehr Echtzeitdaten wäre besser

Bei Izmit, östlich von Istanbul gelegen, gab es 1999 ein Beben der Stärke 7,4, durch das mehr als 18.000 Menschen starben. Ein Beben in vergleichbarer Stärke könnte in der Metropolregion Istanbul mit mehr als 15 Millionen Einwohnern und zahlreichen Touristen eine verheerende Wirkung haben.

Die Forscher plädieren deshalb dafür, die seismischen Aktivitäten unterhalb des Marmarameers besser zu überwachen und Echtzeitdaten zur Verfügung zu haben. „Die Verbesserung der seismischen Überwachungssysteme entlang dieser untermeerischen Verwerfung ist von größter Wichtigkeit und erfordert möglicherweise weitere Bohrlochstationen (zusätzlich zu den bereits bestehenden), permanente Installationen am Meeresboden und Offshore-Glasfasersensorik über der Marmara-Verwerfung“, schreiben die Wissenschaftler.

Das GFZ koordiniert seit zehn Jahren gemeinsam mit der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad das Gonaf-Observatorium mit Bohrloch-Seismometerstationen.

An der Bruchlinie tektonischer Platten

Istanbul liegt am Nordufer des Marmarameers in der Nähe der Nordanatolischen Verwerfung, die zu den aktivsten Erdbebenzonen der Erde gehört. 1999 waren bei einem Erdbeben der Stärke 7,6 am östlichen Stadtrand von Istanbul mehr 17 000 Menschen ums Leben gekommen. Seitdem hat sich die Einwohlzahl Istanbuls fast verdoppelt - auf 16 Millionen Menschen.

Im Februar 2025 waren bei zwei schweren Erdbeben mehr als 50.000 Menschen im Südosten der Türkei und in Syrien ums Leben gekommen, in mehreren Städten und Dörfern wurden zehntausende Gebäude zerstört oder beschädigt.

25 Mega-Citys in Risikogebieten

Diese schweren Beben zeigen einmal mehr, wie verwundbar selbst hoch industrialisierte Staaten sind. Mega-Metropolen wie Istanbul, Tokio, Los Angeles oder Mexiko-Stadt liegen in extrem gefährdeten Erdbebengebieten. Jederzeit kann über sie eine seismische Katastrophe hereinbrechen.

Nach Angaben des United States Geological Survey (USGS) und des GeoForschungsZentrums (GFZ) in Potsdam gibt es weltweit täglich rund 270 Beben mit einer Magnitude von mehr als 3,1. Im Schnitt kommt es zehnmal pro Jahr zu Beben der Stärke 7+.

Die Menschen blenden die Gefahren vielfach aus und beruhigen sich damit, dass schon nichts passieren wird. Ein lebensgefährlicher Irrtum. Nach UN-Angaben gibt es mittlerweile 25 Mega-Citys in Risikogebieten. Ungeachtet der Gefahren aus dem Untergrund, wachsen Metropolregionen mit zehn Millionen Einwohnern und mehr in einem Tempo, wie sonst keine anderen Städte auf der Erde.

Wir zeigen Ihnen, wo sich die gefährlichsten Erdbeben-Regionen der Welt befinden:

Warum ist Istanbul ein Erdbeben-Hotspot?

Die Region um die türkische Metropole Istanbul ist geologisch einer der gefährlichsten Orte auf diesem Planeten. Die 15,7 Millionen Einwohner sitzen buchstäblich auf einem seismischen Pulverfass. Der Grund: Direkt südlich liegt die Nordanatolische Verwerfung. An dieser aktiven Plattengrenze verschieben sich die anatolische und eurasische Erdplatte gegeneinander. Wenn sich die Platten ineinander verhaken, entlädt sich die aufgebaute Spannung in Erdbeben.

Das Zentrum der Verwerfung liegt südlich von Istanbul im östlichen Marmarameer – ein 150 Kilometer langer Abschnitt der Marmara-Hauptverwerfung. Zuletzt war er am 22. Mai 1766 gebrochen. Das Beben mit einer Magnitude von 7,1 Stärke forderte damals mehr als 4000 Todesopfer.

 

 

 

 

 

 

Wann könnte die Erde bei Istanbul beben?

Geologen sind sich einig. Das nächste schwere Beben in Istanbul ist längst überfällig. Aktuelle seismische Analysen bestätigen, dass die Plattengrenze südlich von Istanbul blockiert ist. Dort sind die anatolische und eurasische Erdplatte komplett ineinander verhakt. Kommt es dort zum Bruch der Verwerfung kommt – nur das Wann, nicht das Ob ist noch offen –, wäre ein Beben von einer Stärke bis 7,4 auf der Richterskala sehr wahrscheinlich.

Wie blockiert die Verwerfung unter dem Marmarameer ist, haben Wissenschaftler vom Deutschen GeoForschungsZentrums Potsdam anhand neuer seismologischer Daten aus den letzten 15 Jahren analysiert. Ihre Ergebnisse haben sie in dem Fachmagazin „Geophysical Research Letters“ („Variation of Fault Creep Along the Overdue Istanbul-Marmara Seismic Gap in NW Türkiye“) veröffentlicht.

EN | Kriechen und Verhaken vor #Istanbul: GFZ-Forschende zeichnen systematisches Bild der Plattengrenze im #Marmara-Meer. Das liefert einzigartige neue Einsichten in die #Erdbebengefahr und mögliche #Erdbeben Szenarien der Region. News-Story https://t.co/d0jzFsrhHE Studie pic.twitter.com/dH7xs0rYjD — GFZ (@GFZ_Potsdam) August 4, 2023

Original publication https://t.co/pPTy730VjZ — GFZ (@GFZ_Potsdam) August 4, 2023

 

 

 

 

Warum sind die Erdplatten blockiert?

Mithilfe des computergestützten „Template Matching“ – einer speziellen Technik in der digitalen Bildverarbeitung zum Auffinden kleiner Teile eines Bildes – konnte das Team um den Geologen Dirk Becker belegen, dass sich die Platten im Westteil des Marmarameeres nur noch „ kriechend aneinander vorbeibewegen“. Südlich von Istanbul allerdings ist selbst diese kriechende Bewegung der Verwerfung komplett blockiert.

„Der Kriechanteil verringert sich ostwärts systematisch“, erklärt Becker. „Dort sind die Abschnitte der Marmara-Verwerfung („Main Marmara Fault“/MMF) )dann vollständig verhakt.“ Ebenfalls blockiert sei ein Stück der Ganos-Verwerfung, einem Abschnitt der Plattengrenze, der jenseits der Marmarameeres im Westen liegt.

Ist ein sehr starkes Beben wahrscheinlich?

Wenn die Nordanatolische Verwerfung brechen sollte, könnte dies ein Beben bis zu einer Stärke von 7,4 direkt bei Istanbul oder ein Beben an der Ganos-Verwerfung westlich des Marmarameeres mit noch höheren Magnitude zur Folge haben.

„Die Studie liefert ein differenziertes Bild der Dynamik der Plattenbewegung an einer kritisch gespannten Verwerfung in unmittelbarer Nähe zu einer Megacity“, erläutert GFZ-Mitautor Marco Bohnhoff. „Der systematische Übergang zwischen verhakten und kriechenden Segmenten ist in dieser Form weltweit einmalig.“

Es scheint also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, so Bonhoff weiter, bis sich die geologische Spannung an der Marmara-Verwerfung entlädt.

Info: Messung von Erdbeben

Messung Bei der Messung von Erdbeben wird die Stärke der Bodenbewegung angegeben (Magnitude). Weltweit treten jährlich etwa 50 000 Beben der Stärke 3 bis 4 auf. Etwa 800 haben die Stärken 5 oder 6. Ein Großbeben hat den Wert 8.

Stärken Das heftigste bisher auf der Erde gemessene Beben hatte eine Magnitude von 9,5 und ereignete sich 1960 in Chile. Erdbeben können je nach Dauer, Bodenbeschaffenheit und Bauweise in der Region unterschiedliche Auswirkungen haben.

Magnitude Meist gilt: • Stärke 1-2: nur durch Instrumente nachzuweisen • Stärke 3: nur in der Nähe des Epizentrums zu spüren • Stärke 4-5: 30 Kilometer um das Zentrum spürbar, leichte Schäden • Stärke 6: mäßiges Beben, Tote und schwere Schäden in dicht besiedelten Regionen • Stärke 7: starkes Beben, oft katastrophale Folgen und Todesopfer • Stärke 8: Großbeben mit vielen Opfern und schweren Verwüstungen

Richterskala Früher wurde die Erdbebenstärke einheitlich nach der Richterskala bestimmt. Der amerikanische Geophysiker Charles Francis Richter hatte die Skala 1935 speziell für Kalifornien ausgearbeitet. Heute wird sie nur noch eingeschränkt eingesetzt, auch weil das Verfahren nur bei Erschütterungen in der Nähe der Messstationen zuverlässige Werte liefert (Lokalmagnitude).

Mess-Skalen Mittlerweile werden mehrere Skalen parallel verwendet. Derzeit gilt die sogenannte Momentmagnitude als bestes physikalisches Maß für die Stärke eines Bebens. Sie bestimmt das gesamte Spektrum der seismischen Wellen bei Erdstößen. Die meisten Skalen ergeben zumindest bei schwächeren Beben ähnliche Werte wie die Richterskala, erlauben aber eine genauere Differenzierung bei schweren Beben.

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Erstellt:
14. Dezember 2025, 12:48 Uhr

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