Neu im Kino: Doku von Kathrin Jahrreiß
All die Leichen im Keller
Neu im Kino„Der dritte Bruder“ von Kathrin Jahrreiß ist eine autobiografische Doku über die Großelterngeneration und typisch deutsche Geheimnisse.

© realfiction
Foto der Brüder Jahrreiß
Von Kathrin Horster
Missmutig stapft Walther Jahrreiß, Jahrgang 1940, neben seiner erwachsenen Tochter Kathrin über den Friedhof. Die Dokumentarfilmerin möchte das Grab ihres verstorbenen Großvaters Otto besuchen, das ihr Vater aber längst hat einebnen lassen. Er habe das bestimmt mit ihr besprochen, brummt er, genervt von den schnippischen Bemerkungen der Tochter. Bei Familie Jahrreiß herrscht offenbar dicke Luft, sobald es um die Vergangenheit geht, zeigt die autobiografische Dokumentation „Der dritte Bruder“.
Nie mit Herz und Kopf
Ihren eigenen Vater beschreibt die Filmemacherin als Mann, der nie mit Herz und Kopf bei ihr war. Jahrreiß will verstehen, was ihren Vater so distanziert hat werden lassen, und taucht dafür anhand von Gesprächen und alter Dokumente tief in die Familienhistorie ein. Die fast unglaubliche Geschichte ihrer Verwandten spielt sich vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und des Sozialismus der DDR ab. Opa Otto, der titelgebende dritte Bruder, war selbst kein emotional zugewandter Vater, erfährt Kathrin Jahrreiß. Während Ottos Bruder Hermann unter den Nazis an der Uni Köln als juristischer Professor Karriere macht, verliert der zweite Bruder, Walther, wie die beiden anderen ebenfalls Jurist, in Köln seinen Lehrstuhl – weil er mit einer Jüdin verheiratet ist. Walther kann noch mit seiner Familie in die USA fliehen. Otto, wie Walther mit einer Jüdin verheiratet, bleibt allein in Dresden, der Geburtsstadt der Brüder, zurück. Nach der Ermordung seiner Frau in Auschwitz stürzt Otto in eine tiefe Depression, heiratet ein zweites Mal und versucht so, das schmerzhafte Andenken der verstorbenen Vorgängerin auch bei seinen Kindern zu tilgen. In der DDR wird er sich gezwungenermaßen mit der Stasi einlassen.
Detailversessen rekonstruiert Kathrin Jahrreiß die verzweigten Lebensläufe und zeigt, wie unterschiedlich die Angehörigen einer Familie auf politischen Terror reagierten – mit Anpassung, Flucht oder dem Rückzug in die innere Emigration. Die durch Rivalität, abweichende Wertvorstellungen und Überlebensstrategien entstandenen Verletzungen wirken lange nach; vererbt von den Vätern an die Kinder und Kindeskinder.
Terror der Nazis
Auch wenn inzwischen viele Filme den Terror der Nazis für Nachgeborene nachvollziehbar zu machen versuchen; „Der dritte Bruder“ ist deshalb so eindrucksvoll, weil Kathrin Jahrreiß nachweist, wie nachhaltig familiäre Traumata Generationen beeinflussen. Mutig konfrontiert sie Nachkommen der mutmaßlichen Denunzianten ihrer jüdischen Oma mit der Schuld, dass die möglicherweise für deren Tod mitverantwortlich waren. Und räumt auch mit dem eigenen idealisierten Bild ihres als Jurist unter den Nazis erfolgreichen Onkels auf, der nach reibungsloser Entnazifizierung noch prominente Täter bei den Nürnberger Prozessen verteidigte. Jahrreiß’ Film stimmt nachdenklich, wie viele andere Familien in Deutschland wohl ähnliche Geschichten erzählen könnten – wenn sie nur wollten.
Der dritte Bruder: Deutschland 2024. Von Kathrin Jahrreiß, 116 Minuten. Ab 12 Jahren.