NATO und EU

Auch wenn Putin angreift, ist nicht automatisch Krieg

Wird ein NATO- oder EU-Partner Deutschlands angegriffen, entscheiden Bundesregierung und Parlament, wie sie helfen wollen. Wir erklären die Grundlagen des Bündnisfalls.

Ein Leopard 2 A7V des Panzerbataillons 203 bei einem Gefechtsschießen auf dem Truppenübungsplatz im niedersächsischen Bergen: bedingt verteidigungsbereit.

© RONNY HARTMANN/AFP

Ein Leopard 2 A7V des Panzerbataillons 203 bei einem Gefechtsschießen auf dem Truppenübungsplatz im niedersächsischen Bergen: bedingt verteidigungsbereit.

Von Franz Feyder

Würde die NATO angegriffen, träte automatisch der Bündnisfall ein und Deutschland befände sich mit Mann und Maus und Bundeswehr im Krieg – so stellen es viele Politiker und Journalisten dar, glauben es viele. Eine falsche Vorstellung, wie ein Blick in den NATO-Vertrag zeigt.

Was sagt Artikel 5 des NATO-Vertrags über die Beistandspflicht?

Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ist das Herzstück der kollektiven Verteidigung der NATO. Er besagt, dass ein Angriff gegen einen oder mehrere Mitgliedstaaten als Angriff gegen alle angesehen wird. Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, dem angegriffenen Staat Beistand zu leisten, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt. Wie allerdings die jeweiligen Staaten unterstützen, bleibt ihnen selbst überlassen. Jede einzelne Bündnispartei ist demnach aufgefordert, „unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt“ zu treffen, „die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten, wobei die konkreten Maßnahmen im Ermessen jedes Staates liegen“.

Wie ist die Beistandspflicht innerhalb der Europäischen Union?

Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats „Hilfe und Unterstützung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“. Diese Klausel wurde mit dem Vertrag von Lissabon 2009 eingeführt und führte am 31. März 2010 zu dem Beschluss, das Verteidigungsbündnis Westeuropäische Union aufzulösen. Der EUV verpflichtet also jeden Bündnispartner zwingend, mit allen ihm „zur Verfügung stehenden Mitteln“ beizustehen. Er geht damit deutlich über die Regelungen des NATO-Vertrages hinaus.

Wie war der Bündnisfall im 1948 geschlossenen Vertrag über die Westeuropäische Union (WEU) formuliert?

Anders als im NATO- und klarer als im EU-Vertrag war in dem auch als Brüsseler Vertrag bekannten WEU-Vertrag die gegenseitige militärische Unterstützung verpflichtend für das Gebiet Europas klar geregelt. „Wenn einer der Hohen Vertragsparteien einem bewaffneten Angriff in Europa zum Opfer fällt, werden die anderen Hohen Vertragsparteien ihm gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen Beistand leisten – mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt.“ 2011 wurde der Prozess der Auflösung der WEU abgeschlossen.

Baute die EU die sich aus Artikel 42 EUV ergebende Verteidigungsfähigkeit auf?

Über reine Symbolpolitik kamen die Politikerinnen und Politiker der EU seit 2009 beim Aufbau europäischer Verteidigungsstrukturen nie hinaus. Sie blieben immer abhängig von den Fähigkeiten der USA in der NATO – insbesondere in der strategischen Aufklärung, bei strategischen Truppentransporte sowie Luft- und Raketenabwehr. Vor allem die Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten über Tiefe und Tempo einer gemeinsamen Sicherheitspolitik und der militärischen Integration erweist sich bis heute als Bremsklotz. Auch an einer Reform der EU basteln die Politiker erfolglos seit 1970 herum. Ein 1975 vom belgischen Premier Leo Tindemans vorgelegter Bericht mit systematischen Reformvorschlägen verschwand in den Schubladen der Politiker.

Wurde jemals der Bündnisfall nach dem NATO- oder dem EU-Vertrag ausgerufen?

Nach dem Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001 rief die NATO den Bündnisfall nach Artikel 5 aus. Von den damals 19 Mitgliedsstaaten unterstützten elf die USA aktiv mit militärischen Kräften, vor allem mit Spezialeinheiten. Dazu gehörten außer Deutschland auch Kanada, Frankreich, das Vereinigte Königreich und die skandinavischen Mitgliedsstaaten. Nach den Terroranschlägen von Paris am 13. November 2015 rief Frankreich am 17. November den EU-Bündnisfall aus. Von den damals 28 Mitgliedsstaaten der Union unterstützten nur sechs aktiv mit militärischen Kräften: Großbritannien, Deutschland, Niederlande, Belgien, Italien und Dänemark.

Wie ist es um die Verteidigungsfähigkeit Europas bestellt?

Innerhalb der EU verfügen die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Dänemark, Finnland und Schweden sowie Polen über gut ausgerüstete und ausgebildete Streitkräfte. Deutschland, Frankreich und Italien halten insgesamt zu wenig Truppen mit veralteter Ausrüstung vor. Zwar hat Deutschland seine Verteidigungsausgaben erheblich erhöht und plant, bis 2032 fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufzuwenden. Noch aber ist nicht klar, wie das Geld verwendet wird und wie die derzeit etwa fehlenden 100 000 Soldaten rekrutiert werden sollen.

Und Deutschland?

Mit der jetzt in Litauen aufgestellten und dort von 2027 an dauerhaft stationierten deutschen Panzerbrigade 45 verfügt Deutschland über einen sehr modern ausgerüsteten Großverband. Aber: Kampf- und Schützenpanzer, Panzerhaubitzen und Mittel zur elektronischen Kampfführung werden aus Deutschland abgezogen und ins Baltikum gebracht. Bislang ist nicht bekannt, wann und wie die fehlende Ausrüstung beschafft wird. Eine angesichts der Bedrohung durch Flugdrohnen überlebenswichtige Flugabwehr fehlt in den schweren Gefechtsbrigaden komplett. Die Heeresflugabwehrtruppe wurde im Rausch einer idealisierten und von Wunschdenken getriebenen Sicherheitspolitik 2012 vollständig aufgelöst.

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Erstellt:
25. Mai 2025, 10:56 Uhr
Aktualisiert:
26. Mai 2025, 07:20 Uhr

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