Blick zurück mit Stolz

Mit der Revolution von 1848 bekam Deutschland sein erstes demokratisch gewähltes Parlament. Es trat in der Frankfurter Paulskirche zusammen, mit dabei war auch der Abgeordnete Ferdinand Nägele aus Murrhardt. Historiker Gerhard Fritz erinnert an dieses Glanzlicht vor 175 Jahren.

Gerhard Fritz am Denkmal von Johann Ferdinand Nägele in Murrhardt. Die Stadt hat auch den Platz nach ihrem Ehrenbürger benannt. Die Metallskulptur wurde vom direkten Nachfahren, Thomas F. Naegele, entworfen. Hinten ist Nägeles Geburtshaus zu sehen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Gerhard Fritz am Denkmal von Johann Ferdinand Nägele in Murrhardt. Die Stadt hat auch den Platz nach ihrem Ehrenbürger benannt. Die Metallskulptur wurde vom direkten Nachfahren, Thomas F. Naegele, entworfen. Hinten ist Nägeles Geburtshaus zu sehen. Foto: Stefan Bossow

Von Armin Fechter

Backnang/Murrhardt. Die deutsche Geschichte sei arm an Ereignissen, auf die man stolz sein könne, sagt Gerhard Fritz. Das Bild der nationalen Vergangenheit wird vielmehr von den Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt, wenn nicht sogar dominiert. Eine positive Ausnahme stelle aber – trotz ihres letztendlichen Scheiterns – die Revolution von 1848 dar. Nicht nur, dass damals erstmals ein Parlament frei gewählt wurde, ein zutiefst demokratischer Akt: Die Vertreter des Volks machten sich auch sehr rasch und gründlich daran, die Grundrechte der Deutschen zu definieren. Es galt, eine Verfassung auszuarbeiten. Überdies war die Gebietsfrage zu klären: Was ist eigentlich Deutschland? Welche Länder und Staaten des arg zersplitterten Territoriums sollten letztlich dazugehören? Denn mehrere Fürsten, voran die Habsburger und die Hohenzollern, also Österreich und Preußen, hatten auch territorialen Besitz außerhalb der bisherigen Bundesgrenzen, umgekehrt stand beispielsweise Schleswig unter dänischer Hoheit. Und schließlich die Frage aller Fragen: Monarchie oder Republik?

Fehlende Machtabsicherung rächt sich

All diese Diskussionen wurden in der Nationalversammlung – wegen der vielen Akademiker in ihren Reihen hieß sie auch das Professorenparlament – höchst gelehrt geführt. Darüber versäumten es die klugen Männer aber, eigene Machtmittel zu schaffen: Beamte, Finanzen, Militär. Das sollte sich rächen, als die alten Mächte zum Gegenschlag ausholten und mit ihren Truppen Wien, Berlin und andere wichtige Zentren zurückeroberten und die Aufständischen kurzerhand aus dem Weg räumten. Die neu erstarkte Gewalt erlaubte es dann dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., die ihm angetragene Kaiserwürde auszuschlagen und die Revolutionäre mit Hohn und Spott zu übergießen. Zu sehr hatten sich die Parlamentarier darauf verlassen, dass die deutschen Fürsten die rechtmäßig zustande gekommene Verfassung akzeptieren würden.

Von einer vertanen Chance möchte Fritz dennoch nicht sprechen, im Gegenteil: Es sei ein Highlight, sagt der Historiker, der in Stuttgart studiert, in Backnang als Lehrer am Max-Born-Gymnasium unterrichtet, als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stadtarchivs gearbeitet und nach seiner Promotion schließlich eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd angenommen hatte. Er verweist auf zahlreiche weitere Momente der deutschen Geschichte, die er als Beleg dafür ansieht, dass die Deutschen kein Volk von Untertanen sind. Es sei auch völlig daneben zu meinen, dass eine direkte Linie von Luther oder Friedrich dem Großen zu Hitler führe.

Die Bauern ziehen vor Gericht

Fritz deutet dabei auf „das nächste Jubiläum, das zu feiern sein wird“ hin, nämlich 500 Jahre Bauernkrieg im Jahr 2025, und betont: Die Widerständigkeit von Bauern sei durchgehend nachgewiesen, und zwar durch das Rechtssystem im einstigen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Mit großem Erfolg hätten die Bauern immer wieder vor hohen Gerichten gegen ihre adeligen Grundherren geklagt, um ihre Rechte zu wahren, und hätten damit den Herrschaften Feuer unterm Hintern gemacht. Die Möglichkeiten, den Rechtsweg zu beschreiten, seien sogar besser gewesen als etwa in Frankreich. Das sei selbst für Preußen, dem absolutistischen Musterland nach französischem Vorbild, im 18. Jahrhundert belegt. „Die Leute waren ausgesprochen aufmüpfig“, sagt Fritz und nennt Beispiele: In Spiegelberg sei es im 18. Jahrhundert an der dortigen Glashütte zu Arbeitskämpfen gekommen. Und wenn die Bürger in Murrhardt ihre Frondienste ableisteten, arbeiteten sie oft so langsam, dass sie mit ihrem Auftrag nicht fertig wurden – in der Folge mussten sie weiterbeschäftigt werden, nun aber gegen Bezahlung. Bezeichnend für Deutschland sei daher, so Fritz weiter, nicht die Mär vom Untertanen, sondern das Festhalten am Recht. Im Dreißigjährigen Krieg – so grausig dieser war – sei beispielsweise auffällig, dass sich beide Seiten immer wieder auf kaiserliche Mandate beriefen und auf rechtlichen Grundlagen argumentierten. Fritz spricht deshalb auch vom „typisch deutschen Glauben an Gesetzestexte“ im Gegensatz zu den Verhältnissen in anderen Kulturen.

Mit Vorbildern tut sich Fritz schwer

Ausgesprochen skeptisch zeigt sich Fritz, wenn es um die Frage nach Vorbildern aus der Geschichte geht. Er tue sich schwer damit, beispielsweise einen Barbarossa oder Bismarck als Vorbild zu sehen – alle historischen Persönlichkeiten seien ein Kind ihrer Zeit und nur aus dieser heraus zu verstehen. Andererseits gebe es aber selbstverständlich Leute, die man immer widerwärtig finde. Für die Revolution 1848 sei aber neben den Freiheitsbestrebungen, wie sie etwa beim sogenannten Hambacher Fest als demokratische und nationale Bewegung sichtbar wurden, noch ein anderer Faktor wichtig gewesen, erklärt Fritz: Der Erhebung war nämlich eine Klimakrise vorausgegangen, es hatte Missernten gegeben, es herrschten Hunger und Not. Ähnliches sei auch vor der Französischen Revolution 1789 geschehen. Elend, existenzielle Bedrohung, treibt die Menschen auf die Barrikaden, und solche Aufstände können gravierende Folgen haben, wenn sich ein intellektueller Kopf an der Spitze findet. Auch im Murrtal herrschte Not, rasch nahm der Protest 1848 Fahrt auf. Gerhard Fritz hat die Details in „Unsere Heimat“ 1998 beschrieben.

Der Murrhardter Schlossermeister Ferdinand Nägele tritt als Kandidat an, im Wahlkampf erhält er großen Zuspruch

Aufbegehren Bereits am 2. März 1848 fordert der Backnanger Gemeinderat grundlegende demokratische Rechte. Die Backnanger Adresse gehört somit zu den Märzforderungen, die deutschlandweit erscheinen. In der Umgebung von Backnang kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen: In Sulzbach stürmen die Einwohner das Rathaus und verlangen den Rücktritt des Schultheißen und mehrerer Gemeinderäte. Im Mainhardter Wald stürmen Bauern mehrere Forstämter. Um solche Ausschreitungen in der Stadt zu verhindern, wird eine Sicherheitswache von 90 Mann aufgestellt, die im Juni in eine Bürgerwehr umgewandelt wird.

Wahlen Für die Wahl zur Nationalversammlung bilden die Oberämter Backnang und Weinsberg mit Teilen des Oberamts Marbach einen Wahlbezirk. Im April gibt es Wahlversammlungen, einer der Kandidaten ist der Murrhardter Schlossermeister Ferdinand Nägele. Wo er auftritt, wird er vom Volk gefeiert. Bei der Wahl am 25. und 26. April 1848 setzt sich Nägele mit 78,1 Prozent der Stimmen klar durch. Der Backnanger Stadtschultheiß Christian Schmückle landet nur auf dem dritten Platz. Bei der Wahl zum württembergischen Landtag siegt aber Schmückle knapp vor Nägele, der jedoch als Abgeordneter von Weinsberg dennoch in den Landtag einziehen kann.

Mitstreiter Zusätzlich zu den Vereinen, die sich schon vorher mit politischen Hintergründen gebildet hatten wie der Männerturnverein und der Liederkranz, gründet sich in Backnang am 24. April ein Vaterländischer Verein. Wenig später folgt ein Leseverein, der die politische Bildung verbessern will. Wie in Backnang wird auch in Murrhardt eine Sicherheitswache aufgestellt. Die meisten ihrer 144 Mitglieder tauchen später in der örtlichen Bürgerwehr wieder auf, die wohl zur Unterstützung Nägeles auf die demokratische Reichsverfassung vereidigt wird. Das soll Folgen haben: Nach dem Ende der Revolution leitet das württembergische Innenministerium eine Untersuchung wegen aufrührerischer Handlungen ein.

Abgeordneter Johann Ferdinand Nägele, geboren am 24. Mai 1808, hat die Lateinschule besucht, er ergreift aber trotz überragender Leistungen den Schlosserberuf, den schon sein Vater ausübte. Er gründet die Zeitung „Kubus“, die aber bald verboten wird. Ab 1840 hat er als Stiftungspfleger die Aufsicht über die kirchlichen Finanzen und ist Mitglied des Kirchenkonvents. In der Frankfurter Paulskirche ist Nägele einer der wenigen Handwerker und zählt politisch zur Linken. Er fordert als Grundrecht – allerdings erfolglos – den kostenfreien Schulbesuch für Kinder mittelloser Eltern. Ferner tritt er für eine allgemeine Volksbewaffnung ein, primär gegen die Fürsten und die Reaktion. Er lehnt die Monarchie ab und kann sich als Großdeutscher ein Deutschland ohne Österreich nicht vorstellen. In der Außenpolitik fordert er Bündnisse und eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich und Polen. Nägele gehört auch zu dem harten Kern überzeugter Demokraten, die als Rumpfparlament nach Stuttgart fliehen. Militär löst am 18. Juni 1849 das Parlament auf.

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Erstellt:
24. März 2023, 06:00 Uhr

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