Tübinger OB bei Maybrit Illner
Boris Palmer: „Wir fahren gegen die Wand“
Im ZDF-Talk beharken sich Paul Ziemiak (CDU) und Juso-Chef Philipp Türmer heftig wegen des Bürgergeldes. Tübingens OB Palmer spielt da gerne die sachkundige Instanz.

© Christoph Schmidt/dpa
Boris Palmer bereitet die aktuelle Lage in Deutschland Sorgen (Archivbild).
Von Christoph Link
Wenn zwei sich streiten, kann der Dritte die Rolle des souveränen Sachkundigen einnehmen. So lief es am Donnerstag im ZDF-Talk von Maybrit Illner, als sich Juso-Chef Philipp Türmer emotional mit dem CDU-Landesgeschäftsführer von NRW, Paul Ziemiak, über das Thema Missbrauch beim Bürgergeld stritt.
Zugeschaltet aus Tübingen nahm da Bürgermeister Boris Palmer die Rolle des Erklärers ein. Ziemiak wollte vor allem über den Missbrauch sprechen und warf der SPD vor, sie sei von der Partei der Arbeitenden zu der der Nicht-Arbeitenden geworden.
Ziemiak: „Die plündern den Staat“
Ihm geht es vor allem darum, „alleinstehenden Männern“, die Bürgergeld beziehen und die Arbeit verweigern, die Leistungen zu kürzen. Großen Handlungsbedarf sieht er auch beim missbräuchlichen Einschleusen von Osteuropäern mit Scheinarbeitsverträgen für Minijobs, die nur zum Bürgergeldbezug in deutsche Städte gebracht werden. „Da kommen Menschen aus Rumänien und Bulgarien, die plündern unsern Staat“, meinte Ziemiak, später ergänzend, dass die meist „aus dem Bereich Sinti und Roma“ seien. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU dürfe nicht zur Freizügigkeit in andere Sozialsysteme führen. „Damit muss Schluss sein.“
Türmer wirft Ziemiak Populismus vor
Türmer reagierte mit Zahlen einer IHB-Studie, wonach es in den letzten Monaten nur 100 Totalverweigerer gegeben habe unter den Bürgergeldempfängern. Wenn eine Reform nur auf Kürzungen angelegt sei, lehne er das ab. Was den Missbrauch durch Osteuropäer anbelange, da seien die Betroffenen auch nur „arme Teufel“, die eigentlichen Ganoven seien Schleuser, die sie mit Wuchermieten auch noch abzockten. Und mit dem Verweis auf die Sinti und Roma durch Ziemiak habe er „populistische Knöpfe gedrückt“, meinte der Juso-Chef. Der Christdemokrat konterte da heftig: „Wissen Sie was, die Leute können Ihr politisch korrektes Gerede nicht mehr hören!“
Aber auch Türmer hatte noch einen Pfeil im Köcher, als es um eine mögliche Reform der Erbschaftssteuer ging: Türmer warf der Union vor, dass die sich über 563 Euro Bürgergeld empöre, aber gleichzeitig zulasse, dass Milliarden von Euro für „fast nichts“ versteuert werden. Die Toleranz, die CDU/CSU für einen „auf seiner Jacht“ sitzenden Milliardär habe, die würde er sich von ihr auch für einen Bürgergeldempfänger wünschen. „Unseriös! Polemisch!“ rief da Paul Ziemiak in die Runde. Einig waren sich die Kontrahenten immerhin bei der Bewertung der jüngsten Aussagen von Unions-Fraktionschef Jens Spahn bei Markus Lanz, dass die Vermögensverteilung in Deutschland „nicht in Ordnung“ sei und „wer schon hatte, hat immer mehr“. Dieser Analyse stimmten beide zu.
3200 Euro für eine Familie
Oberbürgermeister Palmer lieferte dann „konkrete Fakten“, wie Maybrit Illner meinte. Zum einen ist Palmer überzeugt, dass eine Erhöhung des Bürgergeldes um 25 Prozent in zwei Jahren zu viel gewesen sei und das Lohnabstandsgebot verletzt habe. „Das stiftet Unfrieden bei den Leuten.“ Es gebe da den Einzelfall einer vierköpfigen Familie, die mit allen Sozialleistungen und Bürgergeld 3200 Euro erhalte – so einen Nettobetrag durch Arbeit zu erzielen, sei schon schwierig. Was die Arbeitsverweigerer anbelange, so sei er für ein abgestuftes System von Sanktionen. „Das muss nicht gleich beim ersten verpassten Termin greifen, aber es sollte schnell spürbar sein.“ Von Arbeitgebern höre er, dass es tatsächlich ein Problem gebe mit von den Jobcentern geschickten Arbeitnehmern, die ihren neuen Job auch rasch wieder aufgeben.
Job im Hotel abgelehnt
Allgemein stützte Palmers Analyse eher die Sicht der Union, und auch ein Beispiel zum Lohnabstandsgebot untermauerte dies. Ein Hotelier aus dem Schwarzwald habe eine Ukrainerin einstellen wollen, berichtete Palmer, die Frau hat ein Kind, und beim Durchrechnen der Finanzen habe sie feststellen müssen, dass sie im Bürgergeldbezug mehr in der Tasche habe. „Die Frau hätte für eine betriebliche Wohnung eine geringe Miete zahlen müssen und sie hätte ihr Kind dort in eine Kita bringen müssen, die keine einkommensgestaffelten Gebühren erhebt. Das machte den Unterschied aus“, berichtete Palmer.
Die möglichen Einsparungen beim Bürgergeld – fünf Milliarden? – sind für den Lokalpolitiker bei einer Finanzlücke von 175 Milliarden Euro übrigens auch nicht das brennende Thema. Das ist für ihn die klamme Finanzsituation der Kommunen: „Wir fahren bei den Kommunalfinanzen mit hoher Geschwindigkeit gegen die Wand.“ Tübingen habe vor zwei Jahren noch ein Viertel seiner Steuerkraft für Sozialleistungen ausgegeben, im nächsten Jahr seien es schon 40 Prozent.
Und vor allem die Flaute in der Wirtschaft treibt ihn um. Man habe nicht weit von Tübingen die Insolvenz eines Porsche-Batteriezellenwerkes, eines Strickmaschinenherstellers, einer Solarfabrik und jetzt auch noch den tausendfachen Stellenabbau bei Bosch. „Die Dramatik der Lage wird unterschätzt. Wir werden alle weniger netto in der Tasche haben.“ Er hoffe deshalb auf den „Herbst der Reformen“, damit die deutsche Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig werde.
Bürgergeld zur Existenzsicherung
Die Journalistin Eva Quadbeck („Redaktionsnetzwerk Deutschland“) musste ihn da enttäuschen, sie wies darauf hin, dass Kanzler Merz den Begriff „Herbst der Reformen“ jetzt im Bundestag kein einziges Mal verwendet habe. „Sozialstaat in Not?“ hatte der Titel der Sendung geheißen, aber eigentlich war nur übers Bürgergeld gesprochen worden.
Verena Bentele vom Sozialverband VdK meinte, dass das Bürgergeld für Bedürftige da sei: Kinder, Jugendliche, Behinderte und Menschen, die sich zigfach bewerben und keinen Job finden, oder kurz vor der Rente ihren Arbeitsplatz verlieren. Es gehe darum, ihnen die Existenz zu sichern. Mit der ständigen Diskussion ums Bürgergeld komme da eine Kraft und Macht ins Thema, die „politisch nicht gesund“ sei und mit der man „Hallen zum Brodeln bringen kann.“ Der Missbrauch von Bürgergeld sei ein strafrechtliches Thema: „Wir könnten hier eigentlich auch mit Strafrechtlern sitzen.“