Coronakrise als Spiegel ungelöster Probleme
Beim Wirtschaftstag Oberes Murrtal geht es vor allem um die Frage, wie der ländliche Raum seine Attraktivität erhalten kann. Viele Schwierigkeiten und Herausforderungen sind nicht neu, haben aber unter der Pandemie teils eine besondere Brisanz beziehungsweise Schärfe entwickelt.

© Jörg Fiedler
Einige der Themen, die am Dienstagabend diskutiert werden, standen auch schon beim Wirtschaftstag 2018 auf der Agenda wie Digitalisierung oder Fachkräftemangel. Fotos: J. Fiedler
Von Christine Schick
Murrhardt. Peter Hauk, Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, nimmt als Hauptredner des Abends in seinem ausführlicheren Beitrag die „Chancen und Herausforderungen im ländlichen Raum“ in den Blick. Er kann dabei die Brücke zu einem der Projekte schlagen, das von seinem Ministerium gefördert wurde und ursprünglich vor bereits anderthalb Jahren auf dem damals schon geplanten Wirtschaftstag eingeweiht werden sollte. „Der lokale Online-Marktplatz Murrhardt hat seine Bewährungsprobe während der Pandemie vermutlich schon bestanden“, sagt er. In Bezug auf die Nutzung von Technik und digitaler Infrastruktur habe sich mit Corona gezeigt, was dann doch möglich ist. Warum letztlich so viele Menschen dazu übergegangen sind, vor allem online einzukaufen, ist für ihn trotzdem nicht abschließend geklärt. Aufschluss darüber verspricht er sich aus der wissenschaftlichen Begleitung der sieben Online-Marktplatzprojekte. Weitere wichtige Vorhaben für ihn: Unterstützung der Gastronomie sowie der ärztlichen Versorgung auf dem Land.
Den ländlichen Raum will Hauk in seiner Wichtigkeit nicht unterschätzt sehen, in Bezug auf Fläche und Wertschöpfung beschreibt er ihn als „wirtschaftliche Kraftwelle“. Um diese zu erhalten, müsse man aber bei der Infrastruktur vorankommen. Zum Glasfaserausbau merkt er an, dass sich mittlerweile auch private Firmen Projekten im ländlichen Raum annähmen – unter der Voraussetzung einer festen Abschlussquote bei den Haushalten. Gleichzeitig stellt er fest: „Der Klimaschutz ist wichtig.“ An ihm werde sich auch entscheiden, wie attraktiv Baden-Württemberg in Zukunft bleibt. Er prophezeit eine Zunahme von Dürreperioden und Unwetterereignissen und plädiert für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels auch vor dem Hintergrund, dass, sollten Kipppunkte erreicht werden, es wirklich ungemütlich werden kann. Bei der Emissionsreduktion von CO2 müsse Deutschland beispielgebend vorangehen, wobei Hauk auf die Technologiekompetenz setzt, um eine auf fossilen Rohstoffen basierende Wirtschaft zu transformieren. Auch Holz könne und solle dabei eine wichtige Rolle spielen.
Für Bürgermeister Armin Mößner ist der Wirtschaftstag, den die Stadt Murrhardt gemeinsam mit dem Unternehmerforum Oberes Murrtal (Ufom) ausrichtet, die Möglichkeit, das Wirgefühl zu stärken sowie sich inhaltlich zu verorten und auszutauschen. „Gerade treiben uns vor allem die großen Megatrends auch im ländlichen Raum um, die da sind: attraktives und bezahlbares Wohnen, Digitalisierung und Klimaschutz“, sagt er. Den Besuchern – Vertreterinnen und Vertreter aus Industrie, Handwerk, Handel, Verwaltung, Verbänden und Politik – skizziert er beispielhaft, wie die Walterichstadt diesen zentralen Herausforderungen begegnen will oder es schon tut. Als Wohnort seien Murrhardt und das Obere Murrtal wieder in den Fokus gerückt, und so reagiert die Stadt mit Planung eines neuen Baugebiets, Unterstützung privater Projekte und jüngst mit der Gründung einer Kommunalbau GmbH. Beim Glasfasernetzausbau in den Teilorten bis hin zu kleinen Weilern kommt man langsam voran, die Umsetzung im interkommunalen Verbund soll Ende 2023 abgeschlossen sein. „Ohne Förderung von Bund und Land mit immerhin 90 Prozent wäre das nicht zu leisten.“ In Sachen Klimaschutz verweist Mößner auf das städtische Programm, den Nahwärmeausbau, eine Fotovoltaikoffensive mit der Energieagentur Rems-Murr sowie eine geplante Freiflächensolaranlage. Er macht klar, dass für die Stadt Fördergelder weiterhin wichtig und genauso Infrastrukturmaßnahmen wie Murrbahnausstattung und -takt, B-14-Ausbau bis hin zum Hochwasserschutz von Bedeutung sind. Letztlich dazuzurechnen ist auch der Online-Marktplatz Murrhardt, der mithilfe einer Landesförderung aufgebaut werden konnte, Handel und Gewerbetreibende unterstützt und der in einem Film vorgestellt wird.
Ufom-Vorsitzender Stefan Grotzke stellt fest, dass die Mitglieder aktuell vor allem die Frage beschäftigt, wie die Unternehmen nach Corona wieder in Schwung kommen. Zu den Herausforderungen besagter Megatrends kämen Probleme wie Fachkräftemangel und aktuell Materialengpässe. Notwendig sind für ihn eine Beschleunigung der Verwaltungsverfahren und eine Entbürokratisierung. „Die Klimakrise ist unbestritten, Wirtschaft und Klima müssen da zusammengehen“, sagt er. Auch Grotzke hofft, dass Deutschland beim Klimaschutz in Bezug auf technologische Entwicklungen eine Vorreiterrolle einnehmen kann.
In der anschließenden Gesprächsrunde, die der Ufom-Vorsitzende moderiert, gesellen sich zu Hauk und Mößner auch Markus Beier, Geschäftsführer der IHK-Bezirkskammer Rems-Murr, sowie Steffen Jäger, Präsident und Hauptgeschäftsführer des baden-württembergischen Gemeindetags, und es werden einige der Probleme nochmals auf den Punkt gebracht. In Bezug auf Corona haben für Markus Beier vor allem Hotellerie und Gastronomie sowie der Einzelhandel harte Zeiten hinter sich, produzierende Betriebe sind vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. „Allerdings liegt der Materialmangel wie Mehltau über der aktuellen Entwicklung“, sagt er. Hinzu kämen altbekannte Probleme wie der Fachkräftemangel oder Personalengpässe in der Gastronomie. Steffen Jäger unterstreicht die wirtschaftliche Relevanz des ländlichen Raums, geht aber auch davon aus, dass mit Einbußen zu rechnen und künftig noch gezielter zu überlegen ist, wie man wirtschaftlich erfolgreich bleiben kann. Minister Hauk hält die Impfquote für ganz entscheidend, und bei der „stehen wir nicht gut da“. Sie sei das Einfallstor für eine wirtschaftliche Depression. In puncto Fachkräftemangel, bei dem auch der demografische Wandel eine Rolle spielt, kann er sich vorstellen, auch die Hürden für Zuwanderung zu senken.
Um junge, gut ausgebildete Menschen zu halten oder ihnen eine Rückkehr aufs Land schmackhaft zu machen, hält Jäger den Wohnungsbau für ganz entscheidend. Am Beispiel des Mobilfunkausbaus problematisiert er, wie Infrastrukturvorhaben durch einzelne Bürgerinitiativen vor Ort verlangsamt bis unmöglich gemacht werden können. Hauk spricht beim Breitbandausbau im ländlichen Raum von Marktversagen und räumt ein, dass Verwaltungsverfahren beschleunigt werden müssten. Dass beispielsweise die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren für Windräder von sechs bis sieben auf drei Jahre reduziert werden soll, genügt Steffen Jäger nicht. „Angesichts der thematisierten Herausforderungen ist das zu wenig“, sagt er und analysiert, dass zur Problematik eine rechtliche Ebene gehöre, aber auch die der gelebten Kultur in Verwaltung und Gesellschaft. Auch für Beier tut Bürokratieabbau und eine größere Flexibilität Not. Sein Beispiel: Wer zu Beginn der Coronakrise pragmatische Lösungsansätze verfolgen wollte, habe sich mit einem Bein im Gefängnis gewähnt. „Was in dieser Hinsicht theoretisch möglich ist, sehen wir zurzeit im Ahrtal“, sagt Jäger. Er wünsche sich, dass dies auch ohne eine vorherige Katastrophe künftig machbar ist.
Steffen Jäger (Gemeindetagspräsident),mit Blick auf pragmatische und unbürokratische Lösungsansätze „Was in dieser Hinsicht theoretisch möglich ist, sehen wir zurzeit im Ahrtal.“

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Minister Peter Hauk zeigt sich besorgt, was die Impfquote angelangt.