Kanzlerwahl
Der Dann-doch-noch-Kanzler
Im ersten Wahlgang fällt Friedrich Merz durch, doch schlussendlich wählt der Bundestag ihn zum Bundeskanzler. Nun startet der CDU-Politiker angeschlagen in sein neues Amt.

© Kay Nietfeld/dpa
Sechs Stimmen fehlten Friedrich Merz im ersten Wahlgang.
Von Tobias Heimbach, Tobias Peter, Rebekka Wiese
Man könnte fast denken, Friedrich Merz hätte eine böse Vorahnung gehabt. Bevor es an diesem Tag so richtig losgeht im Bundestag, steht Merz mit Olaf Scholz zusammen. Ein nettes Gespräch zwischen dem Noch-Bundeskanzler und dem, der ihm nachfolgen soll. So soll das aussehen. Scholz wirkt auch sehr entspannt. Er lächelt viel, was man von dem nüchternen Hanseaten gar nicht gewohnt ist.
Merz‘ Miene ist ernster. Klar: Um ihn und seine Zukunft geht es ja an diesem Tag. Und er weiß, dass es knapp werden kann. Auf 328 Stimmen kommen sie in der schwarz-roten Koalition. 316 werden im ersten Wahlgang benötigt, um Kanzler zu werden. Das darf nicht schiefgehen. Aber es kann.
Sechs Stimmen fehlen
Und dann passiert es tatsächlich. Was noch nie vorgekommen ist in der Geschichte der Bundesrepublik, wird Realität: Ein vorgeschlagener Kanzler scheitert im ersten Wahlgang. Er erhält in geheimer Abstimmung nur 310 Stimmen. Das sind sechs zu wenig. Sechs. Merz muss sich jetzt fühlen wie ein Schüler, der gerade erfährt, dass er durchgefallen ist. Womöglich schlimmer. Er sitzt auf seinem Platz und schaut starr nach vorn. In seinem Gesicht rührt sich nichts. Dass er später an diesem Tag doch noch Kanzler werden wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht.
Und so oder so: Für Merz ist die Sache peinlich. Er hat selbst immer wieder betont, dass Deutschland wieder eine sichere und stabile Führung brauche. Sein Plan war es, am Mittwoch nach Frankreich und Polen fliegen, um zu demonstrieren, dass Deutschland in Europa wieder auf dem Platz steht. Dass es Führung übernimmt in Zeiten des Krieges in der Ukraine. Und in denen die USA kein verlässlicher Partner mehr sind. Am Dienstag ist zwischenzeitig nicht klar, ob die Reisen wie vorgesehen stattfinden können – auch wenn letztlich alles bleibt wie geplant.
Wer sind die Abweichler?
So viel in den vergangenen Wochen über das gegenseitige Vertrauen gesprochen worden ist, das zwischen Union und SPD gewachsen sei, so schnell setzt jetzt das Spiel der gegenseitigen Beschuldigungen ein. Gibt es Abweichler aus der Union? Unmöglich, heißt es von CDU und CSU. Bei den Sozialdemokraten? Man sei ganz sicher, dass alle für Merz gestimmt hätten, heißt es aus der SPD. Nur: Die Stimmen fehlen nun einmal.
Es sind ganz unterschiedliche Szenarien plausibel. Vielleicht trifft von allen etwas zu. Gibt es SPD-Abgeordnete, die mit einem Kanzler Merz weiter schwer fremdeln? Insbesondere, nachdem sein Auftritt am Vortag in der SPD-Fraktion als nicht sehr einnehmend beschrieben wird? Ist mancher in Union und SPD sauer, bei der Postenvergabe übergangen worden zu sein? Haben vielleicht die wenigsten gewusst, dass man nicht einfach so in einen zweiten Wahlgang gehen kann? Sondern dass die Sache von der Geschäftsordnung her dann kompliziert wird?
In den folgenden Stunden im Bundestag muss man sich fragen, ob sich eigentlich irgendjemand auf dieses Szenario vorbereitet hat. Ja, es galt als unwahrscheinlich. Aber nicht als unmöglich. Nun ist es eingetroffen. Und erstmal scheint niemand zu wissen, wie es weitergeht. Viele der Beteiligten vor Ort scheinen geschockt: Karin Prien (CDU), designierte Familienministerin, sagt vor dem Fraktionssaal der Union über die Abweichler: „Wer so etwas macht, hat nicht verstanden, worum es jetzt geht.“
Kann es einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag geben?
Während die Sitzung im Plenarsaal unterbrochen wird, kommen die Abgeordneten in ihren Fraktionen zusammen. Friedrich Merz ruft seine Vertrauten ins Büro. Auch Lars Klingbeil kommt dazu, verlässt es nach weniger als einer halben Stunde wieder. Auf den Fluren des Bundestags wuseln Journalisten, Politiker, ihre Pressesprecher und Mitarbeiter durcheinander, es scheint sehr viele Fragen zu geben: Kann es einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag geben? Welche Bedingungen müssen dazu erfüllt sein? Diese Fragen werden hinter den Kulissen erörtert. Und es gibt stundenlang keine Antwort – oder genauer gesagt: zu viele, die sich widersprechen.
Johann Wadephul, der designierte Außenminister, übt sich schon mal als gelassener Diplomat. So etwas könne in einer Demokratie schon mal vorkommen, sagt er nach dem vermurksten ersten Wahlgang. Abgeordnete seien „keine Abstimmungsmaschinen“. Und überhaupt, er wolle jetzt erst mal ein paar Minuten in die Sonne gehen. Nach dem Motto: Dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.
Wadephul wird noch auf das Desaster angesprochen, als Heide Simonis 2005 im Landtag in Schleswig-Holstein von Wahlgang zu Wahlgang erneut scheiterte. Wadephul, der Mann aus dem hohen Norden, sagt, er sei damals dabei gewesen. Das sei aber eine ganze andere Situation gewesen. Dann zieht er erst einmal los – vielleicht wirklich in Richtung Sonne.
Hämische und besorgte Kommentare
Und die Grünen? Auch dort hat fast niemand mit diesem Szenario gerechnet. Als die Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann vor die Presse treten, geben sie sich staatstragend – aber nicht, als wollten sie Merz aushelfen. „Wir werden Verantwortung übernehmen für parlamentarische Verfahren“, sagt Dröge. „Aber wir werden Lars Klingbeil und Friedrich Merz keine Mehrheiten organisieren.“
Immer wieder werden die Grünen gefragt, ob sie nicht doch für Merz stimmen könnten, wenigstens ein paar von ihnen. Aber nicht nur Dröge und Haßelmann verneinen das. Sämtliche Abgeordnete antworten immer wieder darauf: Auf keinen Fall. Sie klingen sehr entschieden. Manche hämisch, die meisten eher besorgt.
Und tatsächlich wäre das wohl nicht mal eine echte Hilfe, sich auf die Stimmen aus anderen Fraktionen zu stützen. Die Mehrheit, die Merz an diesem Tag nicht bekommen hat, ist die, auf die er in dem kommenden Jahr angewiesen sein wird – wenn er denn überhaupt noch Kanzler wird. Für jedes Gesetz, das den Bundestag passieren soll, braucht Merz eine Mehrheit. 310 Stimmen reichen nicht, um zu regieren.
Angela Merkel auf der Besuchertribüne
An diesem historisch einmaligen Tag gerät komplett in den Hintergrund, was sonst an einem Tag wie diesem schon besondere Beobachtungen gewesen wären. Wie die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel während des ersten Wahlgangs noch auf der Bundestagstribüne sitzt, neben ihr die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin und CDU-Grande Rita Süßmuth, inzwischen 88 Jahre. Wie die Ex-Kanzlerin nun mit den Ampelministern plaudert, mit dem bisherigen Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt etwa oder dem Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. Wie Merz‘ Ehefrau Charlotte von einer anderen Tribüne aus ihrem Mann die Daumen drückt. Wie sehr das nötig sein wird, das ahnt sie wohl noch nicht.
Es dauert schließlich viele Stunden, bis feststeht, wie es weitergeht. Irgendwann am Nachmittag wird aber klar: Merz unternimmt noch am selben Tag einen neuen Anlauf. Damit das möglich wird, müssen zwei Drittel der Abgeordneten dafür stimmen, den Wahlgang vorzuziehen. Die anderen Fraktionen signalisieren, dass sie das mittragen. Sie wollen zwar nicht für Merz stimmen. Aber das Prozedere verzögern nun auch nicht. Ansonsten hätte der nächste Wahlgang erst am Freitag stattfinden können.
Und das will offenbar nicht mal Olaf Scholz. Ob er froh sei, dass es nun für ihn als Regierungschef vielleicht noch ein bisschen weiter geht, wird Olaf Scholz gefragt, während er auf den Aufzug wartet. Scholz dreht sich um, und tippt sich mit dem rechten Zeigefinger zweimal an die Stirn. „Das ist nicht lustig“, sagt er dann. „Es wäre besser gewesen, wenn es im ersten Wahlgang geklappt hätte,“ sagt er. Und setzt hinzu: „Aber es gibt ja einen zweiten Wahlgang.“
Im zweiten Durchgang reicht es
Am Nachmittag sitzen deshalb wieder alle Abgeordneten im Plenarsaal. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner spricht ein paar einführende Worte, erklärt das Verfahren, es gibt eine kurze Debatte zur Geschäftsordnung. Am Ende machen die Abgeordneten den Weg frei für den zweiten Wahlgang. Merz sitzt weit in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Beine übergeschlagen. Vor sich hat er sein Handy abgelegt. Er nimmt es nicht mit, als er wenige Minuten später wieder aufsteht, um zur Wahlurne zu gehen.
Bevor er sich wieder setzt, bleibt er einen ganz kurzen Augenblick hinter seinem Stuhl stehen, bevor er sich wieder niederlässt. Dann ist der zweite große Moment des Tages gekommen, die Stimmen werden verlesen. Und dieses Mal reicht es: 325 Abgeordnete haben für Merz gestimmt. Es sind neun Stimmen mehr, als nötig gewesen wären.
Die Unionsfraktion beginnt zu klatschen und springt auf, noch bevor Klöckner das Ergebnis vollständig vorgetragen hat. Merz bleibt sitzen, er hält die Hände ineinander verschränkt, er rührt sich kaum. Auch die SPD klatscht für ihn. Dort erhebt sich aber niemand.
Als die Bundestagspräsidentin ihn fragt, ob er die Wahl annimmt, steht Merz auf, zieht das Mikrofon zu sich, er spricht die Sätze, die er schon vor vielen Stunden hätte sagen wollen. „Ich bedanke für mich das Vertrauen. Und ich nehme die Wahl an.” Später bildet sich eine lange Schlange, Merz schüttelt viele Hände. Sehr wahrscheinlich, dass auch die darunter sind, die ihm im ersten Wahlgang ihre Stimme nicht gegeben haben. Erfahren wird er es wahrscheinlich nie.
Damit ist der Tag für Merz noch nicht vorbei. Klöckner sagt, sie wolle das Ergebnis unverzüglich dem Bundespräsidenten mitteilen. Er muss Merz schließlich noch zum Kanzler ernennen, bevor er dann zurück in den Bundestag fährt, um seinen Amtseid zu leisten. Es ist ein langer Tag für den Abgeordneten Friedrich Merz. Für ihn als Kanzler ist es erst der Anfang.