Der digitale Zwilling als neuer Lehrmeister

Christian Kuhn skizziert auf Einladung der Volkshochschule Murrhardt, wie sich die digitalen Transformation künftig entwickeln wird. Ein Anwendungsgebiet liegt in der Ausbildung, bei der die Umgebung so realistisch abgebildet ist, dass ein Teil per Simulation abläuft.

Die Zukunft einer industriellen Produktion wird zwar nicht völlig ohne den Menschen ablaufen, trotzdem ändert sich vieles. Das Foto von der digitalen Fabrik, einem Labormodell für voll automatisierte Produktion, an der Hochschule Mosbach zeigt, dass auch dort noch Stühle vorhanden sind. Allerdings hat die Arbeit einen viel stärkeren Abstraktionsgrad erreicht – dreht sich vor allem um Unternehmens- und Fertigungsmanagement, Überwachung und Steuerung, Simulation und Automation. Foto: privat

Die Zukunft einer industriellen Produktion wird zwar nicht völlig ohne den Menschen ablaufen, trotzdem ändert sich vieles. Das Foto von der digitalen Fabrik, einem Labormodell für voll automatisierte Produktion, an der Hochschule Mosbach zeigt, dass auch dort noch Stühle vorhanden sind. Allerdings hat die Arbeit einen viel stärkeren Abstraktionsgrad erreicht – dreht sich vor allem um Unternehmens- und Fertigungsmanagement, Überwachung und Steuerung, Simulation und Automation. Foto: privat

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Wie sieht die industrielle Produktion der Zukunft aus? Wird die sogenannte „dunkle Fabrik“ Realität, in der alle Prozesse komplett autonom und voll automatisiert, ganz ohne Menschen ablaufen? „Nein, aber es wird eine digitale Schattenwelt geben“, sagte Professor Christian Kuhn. Der Begriff steht für die Rohprozessdaten, die Maschinen während ihres Betriebs erzeugen. Die Herausforderung sei dabei der Informationsaustausch zwischen der realen und digitalen Fabrik. Dies verdeutlichte er in seinem Volkshochschulvortrag „Die digitale Transformation in der Industrie – wohin geht der Weg?“ vor einem kleinen Zuhörerkreis im Saal des Gasthofs Engel. Kuhn ist Leiter des Studiengangs Elektrotechnik und Automatisierungstechnik sowie Sprecher des Kompetenzzentrums Fertigungs- und Informationsmanagement an der größten dualen Hochschule Baden-Württembergs in Mosbach.

Zum Einstieg erklärte er die wichtigsten Begriffe: Digitale Transformation umschreibe den Wandel hin zur Digitalisierung der Gesellschaft, Wirtschaft und des gesamten Lebensumfelds. Digitalisierung wiederum bedeute, Informationen und vieles mehr durch Rechnersysteme verarbeit- und speicherbar zu machen sowie Prozesse, Produkte und Dienste in digitalen Systemen abzubilden.

Vor zehn Jahren kam das Schlagwort „Industrie 4.0“ auf, eine Initiative der Bundesregierung, nationaler Wirtschafts- und Forschungsverbände sowie Unternehmen mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in globaler Hinsicht zu sichern. Dazu gab es viele Umsetzungsvorschläge von Konzepten bis zu konkreten Technologien. Die Coronakrise „gab einen ordentlichen Push für digitale Kommunikation, Arbeits- und Produktionsprozesse“. Während große Unternehmen bereits weitgehend digitalisiert sind, arbeiten kleine Firmen noch immer viel mit Papier und analog: „Die Digitalisierung muss noch stärker umgesetzt werden“, betonte Kuhn.

Denn die Ansprüche der Kunden wachsen: Sie wünschten individuell nach ihren Vorstellungen gestaltete Produkte, die zugleich innovativ, qualitativ hochwertig, nachhaltig und preisgünstig sowie schnell verfügbar sind. „Das Problem ist aber, dass Produkte in der individuell benötigten oder gewünschten Form oft nicht lieferbar sind.“ Insofern sei es Ziel der Unternehmen, per Digitalisierung die Produktionsprozesse zu optimieren und die Effizienz zu steigern. Nur wenige wollten neue Kunden und Märkte gewinnen, ihre Produktpalette erweitern, Geschäftsmodelle und -prozesse verändern.

Die Herausforderung bei der digitalen Transformation bestehe darin, die reale Welt der physischen und technischen Prozesse (Operational Technology) mit der virtuellen Welt der Informationstechnik (Information Technology) über geeignete Datentransfersysteme zu verknüpfen. Dazu werden Daten erzeugt, aufgenommen, transformiert, analysiert und ausgewertet, um Prozesse zu planen, zu steuern und zu optimieren, Methoden, Konzepte, Systeme und Kompetenzen interdisziplinär weiterzuentwickeln, wodurch die Dualität der Unternehmenswelt verschmilzt. Ein Beispiel ist das Internet der Dinge, sprich intelligente Produkte wie Geräte, die fähig sind, per Internet mit der Außenwelt zu kommunizieren.

Der Referent präsentierte die sogenannte digitale Fabrik der Hochschule: ein sehr anwendungs- und praxisorientiertes Forschungsbasismodelllabor aus integrierten Komponenten verschiedener Hersteller. Wie in einer echten Firma gibt es darin verschiedene Ebenen wie Unternehmensmanagement, Fertigungsmanagement, Überwachung und Steuerung, Simulation und Automation. Ein Kurzvideo zeigte, wie das Ganze funktioniert, die diversen Komponenten verzahnt sind, über ständigen Daten- und Informationsaustausch interagieren und zusammenarbeiten.

Ein Anwendungsbeispiel ist der sogenannte digitale Zwilling: Die digitale Welt bildet die reale Welt möglichst realistisch ab. Und die sogenannte erweiterte Realität ermöglicht auf Mobilgeräten über dynamisches Einblenden reale Aufnahmen in Echtzeit von Maschinenabläufen und universellen Zugang zu Prozessinformationen. Diese Technologie wird eingesetzt in Simulationssystemen zur Ausbildung wie Flugsimulatoren für Piloten oder Anlagensimulatoren für Maschinenbau, Projektierung und andere Aufgaben in der Industrie, um zu trainieren, wie Probleme zu lösen sind.

Digitalisierung bedeutet laut Kuhn auch, dass Informationen wichtige Rohstoffe der Zukunft sind: Die Herausforderung der sogenannten Datenwissenschaft ist es, aus Daten Wissen zu schaffen, sprich aus der Datenfülle die wertvollen Elemente zu extrahieren, aus denen man wichtige Entscheidungen ableiten kann. Um zum Beispiel Produktionsprozesse zu optimieren, gilt es, Informationen per Echtzeitrückkopplung über alle Komponenten und Abläufe zu sammeln und auszuwerten, damit diese optimiert werden können.

Dazu gehören Daten über die Ressourcen wie Personal, Maschinen, Rohstoffe, Finanzen ebenso wie über Produkte, Service und Abfall. „Daten dienen der Wertschöpfung in der Produktion“ in den Bereichen Kosten und Effizienz, Qualität und Sicherheit. Um zu verstehen, was in Prozessen warum geschieht, ermöglichen grafische Darstellungen wie Diagramme Transparenz. Um auf verschiedene Szenarien vorbereitet zu sein, werden Prognosemodelle erstellt. Und intelligente Maschinen reagieren autonom und selbstoptimierend, indem sie selbst Störungen und Reparaturbedarf signalisieren.

„Der Mensch in der Produktion von morgen benötigt neue Kompetenzen und Flexibilität“, um sich an Veränderungen anpassen zu können. Dafür ist die Arbeitszeit an unterschiedliche Anforderungen in verschiedenen Bereichen von Unternehmen flexibel anzupassen. Dies ist verbunden mit Selbstorganisation und Transparenz auf Kommunikationsplattformen unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zudem gilt es, persönliche Kompetenzen weiterzuentwickeln, wie durch Training während der Arbeit und Bereitstellung von Kompetenzassistenzsystemen, die auf künstlicher Intelligenz basieren. So elektronische Helfersysteme zur Problemlösung, Flow-Technologie und -Adaptionssysteme, um ungestört arbeiten zu können. „Der Mensch ist der künstlichen Intelligenz durch seine Vielseitigkeit überlegen“, betonte der Referent.

Um die Herausforderungen der digitalen Transformation meistern zu können, empfahl Christian Kuhn lebenslang, nachhaltig zu lernen und sich weiterzubilden. In der anschließenden kurzen Diskussion kamen verschiedene Anwendungsmöglichkeiten zur Sprache. So die Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes, das bis Ende 2022 jedem Bürger den Online-Zugang zu allen Verwaltungsdienstleistungen ermöglichen soll, oder in der Medizin Videosprechstunden, Ferndiagnostik und Operationen mit Unterstützung internationaler Experten per Internet.

„Der Mensch ist der künstlichen Intelligenz durch seine Vielseitigkeit überlegen.“ Christian Kuhn, Studiengangleiter Elektrotechnik und Automatisierungstechnik,
beim Vortrag über die digitale Zukunft
Der digitale Zwilling als neuer Lehrmeister

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Erstellt:
29. September 2021, 06:00 Uhr

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