Kurioses Gesetz in der Türkei
Der Hut entzweit das türkische Volk
Eigentlich müsste auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen Hut mit Krempe tragen – aber er weigert sich. Kopfbedeckungen sind seit dem Hutgesetz von 1925 kontrovers.
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Selbst Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kann das Hutgesetz nicht abschaffen.
Von Susanne Güsten
Von Rechts wegen müsste Recep Tayyip Erdogan eigentlich Zylinder tragen – oder Homburger, Melone oder Fedora. Einen Hut mit Krempe jedenfalls, so schreibt es das türkische Gesetz allen Inhabern öffentlicher Ämter vor. Das Hutgesetz trat am 28. November 1925 in Kraft und gilt bis heute. Abschaffen oder widerrufen kann das Gesetz nicht einmal der Staatspräsident, obwohl der niemals im Leben einen solchen Hut aufsetzen würde; er kann es höchstens ignorieren – was er auch tut. Das Hutgesetz entzweit seit nunmehr hundert Jahren die türkische Gesellschaft: Was wer auf dem Kopf trägt, darum wird in der Türkei bis heute gestritten.
Der Fez – Symbol der Rückständigkeit?
Staatsgründer Atatürk führte den Hut ein, indem er ihn aufsetzte und mit einer Tournee durch Anatolien im Sommer 1925 als Erkennungszeichen der Modernität und Zivilisation anpries. „Meine Herren, diese Kopfbedeckung bezeichnet man als Hut“, stellte er die neue Mode dem Publikum in den anatolischen Städten vor. In einer zivilisierten Gesellschaft seien solche Hüte zu tragen, fuhr er fort und erklärte den Fez, die bis dahin bevorzugte Kopfbedeckung der Türken, für obsolet und unerwünscht: Dieses Symbol der Rückständigkeit wolle er nicht mehr auf den Köpfen sehen.
Mit dem Hutgesetz vom November wurde Atatürks Wunsch zum Befehl: Alle Abgeordneten, Beamten, Angestellten und Vertreter der Republik mussten ihn künftig tragen; der Fez und der Turban wurden in der Öffentlichkeit nicht mehr geduldet.
Aufstände gegen die neue Mode
In Anatolien kam der Hut nicht gut an; in mehreren Städten gab es Aufstände gegen die neue Mode. Die Anatolier dachten in modischen wie religiösen Fragen konservativ. Weil die Krempe die Gläubigen daran hinderte, mit der Stirn im Gebet den Boden zu berühren, galt die Tracht als gottlos. Die Aufstände wurden von Atatürks junger Republik brutal niedergeschlagen. „Schieß nicht, Hamidiye, wir setzen auch den Hut auf und zahlen Steuern“, erinnert ein türkisches Volkslied an den Angriff des türkischen Kriegsschiffs Hamidiye auf protestierende Turbanträger in Rize am Schwarzen Meer. Die Hamidiye schoss trotzdem. Dutzende Demonstranten wurden festgenommen und von Schnellgerichten verurteilt. Acht Männer wurden gehängt.
„Furchtbare Dinge sind in diesem Land geschehen“, erinnerte der Rechtsanwalt Mücahit Birinci, früheres Vorstandsmitglied der türkischen Regierungspartei AKP, kürzlich an die Niederschlagung des Aufstands von Rize. „Ihr hättet mal meinen Großvater aus Rize nach den Gräueltaten fragen sollen, die im Namen des Hutgesetzes begangen wurden.“ Birinci wandte sich in den sozialen Medien an das Kulturministerium, das zum 100. Jahrestag des Gesetzes eine Ausstellung in Antalya organisierte; gezeigt werden sollten darin historische Fotos von Staatsgründer Atatürk in seinen verschiedenen Hüten. Die Ohrfeige saß; die Ausstellung wurde abgesagt.
Bis zu 90 Menschen starben am Galgen, weil sie gegen das Hutgesetz aufbegehrten
Hingerichtet wurden außer in Rize seinerzeit auch Hut-Gegner in mehreren anderen Städten Anatoliens; nach Schätzung von Historikern starben damals 80 bis 90 Menschen am Galgen, weil sie gegen die Vorschrift aufbegehrten. Das Hutgesetz sieht keine Todesstrafe vor, doch wurden Proteste dagegen als Aufstand, Auflehnung gegen die Staatsgewalt und Umsturzversuch gewertet – ähnlich wie politischer Dissens in der Türkei noch heute als Terror oder Umsturzversuch ausgelegt und drakonisch bestraft wird.
Jahrzehnte nach Atatürk wurde das Hutgebot vom türkischen Militär sogar in der Verfassung verankert: Die nach dem Militärputsch von 1980 erlassene Verfassung, die bis heute gilt, macht das Hutgesetz – zusammen mit anderen Revolutionsgesetzen von Atatürk wie der Einführung des lateinischen Alphabets – vom Gesetzgeber unantastbar.
Frauen waren von dem Gesetz nicht betroffen
Ausschließlich Männer waren von Atatürks Hutgesetz betroffen. Die Frauen und ihre Schleier ließ der Staatsgründer wohlweislich unberührt, hätte ein Verschleierungsverbot damals wohl tatsächlich eine Konterrevolution ausgelöst. Atatürk ließ zwar seine Ehefrau Latife ohne Kopfbedeckung gehen, um ein gutes Beispiel zu geben; ein Kopftuchverbot erließ der Staatsgründer aber nie. Diesen Schritt gingen erst die Militärputschisten von 1980. Unter ihrer Ägide wurde zunächst an Universitäten und dann an allen öffentlichen Institutionen das Kopftuch verboten. Weil zwei Drittel aller türkischen Frauen – damals wie heute – das Kopftuch tragen, schloss die Verfügung Millionen Frauen von höherer Bildung und Beschäftigung aus.
Die Erbitterung dieser Frauen und ihrer Familien war es nicht zuletzt, die Erdogan und seine AKP vor 23 Jahren an die Regierungsmacht trugen. Bis heute reicht ein Hinweis des Staatspräsidenten auf den Kopftuchzwang, der erst in seiner Amtszeit abgeschafft wurde, um zweifelnde Wähler trotz wirtschaftlicher Sorgen immer wieder für ihn stimmen zu lassen. Vom Hutgebot für Männer ist dagegen keine Rede mehr, obwohl es nach wie vor Gesetz ist. Nur selten wird es heutzutage noch hervorgekramt. So berief sich eine Gefängnisverwaltung vor einigen Jahren darauf, als sie einem Häftling seine Kapuzenjacke abnahm. Begründung: Gefangene dürften nur solche Kopfbedeckungen besitzen, die dem Hutgesetz von 1925 entsprechen.
