Der keuchende Darth Vader wird zur atemlosen Helene Fischer

Ennio Marchetto lässt beim Sommerpalast Promis und Sternchen im Minutentakt auftreten – Seine Kostüme aus Pappe sind so wandlungsfähig wie er selbst

Kleine politische Einlage: „Du hast mich tausendmal belogen“, singt Ennio Marchetto als Andrea Berg, klappt den Rock hoch, sodass ein VW-Käfer Diesel erscheint. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Kleine politische Einlage: „Du hast mich tausendmal belogen“, singt Ennio Marchetto als Andrea Berg, klappt den Rock hoch, sodass ein VW-Käfer Diesel erscheint. Foto: J. Fiedler

Von Ute Gruber

MURRHARDT. Die Bühne liegt im Dunkeln. Keine Requisiten, nur ein großer Tisch mit einem undefinierbaren Haufen darauf steht ganz an der Seite. Freudig gespanntes Murmeln im Publikum: Ennio Marchetto, „The Living Paper Cartoon“ – Der lebende Zeichentrickfilm aus Papier. Ist das Musik? Theater? Mit Papierkostümen??! „Man kann sich nicht vorstellen, was das sein soll“, meint eine Zuschauerin, die sich aber gerne gerade von solch unkonventionellen Veranstal-tungen überraschen lasse. Dann geht das Licht im Zirkuszelt des Murrhardter Sommerpalastes aus und unter dem begrüßenden Applaus des Publikums macht sich schemenhaft ein großer, schlanker Mann im eng anliegenden, schwarzen Trikot an besagtem Tisch zu schaffen. Spot an: Marilyn Monroe in weißem Cocktailkleid und platinblonder Föhnfrisur steht auf der Bühne, haucht mit knallrotem Kussmund „I wanna be loved by you“ ins Publikum und lässt zur allgemeinen Erheiterung die Brüste aus gebogenen Papierstreifen wippen, während sie kokett über die Bühne tänzelt.

Szenenwechsel, Genrewechsel. Nachdem die Monroe die papiernen Hüllen von sich geworfen hat, taucht ein weltberühmtes Gemälde auf. Wie bei einem Fotoshot-Rahmen sind Gesicht und Hände allerdings lebendig – und wie! Zu „She’s got it“ lächelt Mona Lisa nicht nur geheimnisvoll sondern singt und zwinkert aus großen, Kajal-umrahmten Augen eindeutig zweideutig ins Publikum. Dabei dreht sich das ganze Gemälde mal nach links, mal nach rechts und wandert auf der Bühne umher. Fast im Minutentakt verwandelt sich Ennio nun zur passenden Musik in allerlei Figuren mit hohem Wiedererkennungswert und imitiert dabei theatralisch und perfekt Mimik und Gestik der Stars – ein Super-RTL-Cartoon für Erwachsene. Lässig elegant schreitet da Karl Lagerfeld daher mit weißer Katze auf dem Arm, John Travolta tanzt rhythmisch mit dunkler Haarpracht und -brust, schlaksig rappend hampelt Cro mit Panda-Maske „Mach dir nie mehr Sorgen um Geld“, lasziv schwingt sich Marlene Dietrich als „fesche Lola“ auf ihren ausgeschnittenen Papierstuhl, Rockröhre Nina Hagen krächzt mit regenbogenfarbener Papier-Haarmähne und dreht sich geschwind einen Joint aus ihrem Cannabisblätter-Kleid. Letztere ist im Übrigen nach eigenem Bekunden die Lieblingssängerin des Künstlers, ihre erste Platte war sein Heiligtum.

Zombiekrallen verwandeln sich in eine Dekoration aus Sternen

Dank des unerschöpflichen Tisches mit den Pappkostümen, die an jene ausgeschnittenen Kleider für die papiernen Modepuppen erinnern, welche Kindern vor Erfindung der Barbiepuppe zur modestilistischen Selbstfindung dienten, geht das Umziehen ratzfatz. Weitaus raffinierter als damals entsteht aber mit wenigen Handgriffen aus demselben Papierkostüm etwas völlig Neues: Lagerfelds Katze wird kurzerhand der Kopf abgerissen, dann wird sie umgedreht zu Adeles Haarpracht, Zombiekrallen werden hochgeklappt zur Sterndekoration am nachtblauen Kleid, ein Rock verwandelt sich durch Umklappen in eine Seppelhose. Klar ist die Handschrift des Modedesigners Sosthen Hennekamp zu erkennen, der zusammen mit dem Mimen und gelernten Grafiker Ennio Marchetto, der nach dem Willen seiner Eltern hätte Espressomaschinentechniker werden sollen, Modelle und Choreografie entwickelt. Oft ist die Metamorphose assoziativ: Der asthmatische Darth Vader etwa verwandelt sich in Helene Fischer, die „atemlos“ ihre blonden Papierhaare kokett über die Schulter wirft, der fleischsüchtige Tyrannosaurus rex mutiert zu Lady Gaga im extravaganten Kleid aus Schnitzeln, die englische Queen in himmelblauem Kostüm mit passendem Hut wird durch ein paar aufgeklebte Fangzähne zu Freddie Mercury, Frontman der Rockgruppe Queen: „I want to break free!“. Sogar politisch wird Ennio zwischendurch: „Du hast mich tausendmal belogen“, singt er als Andrea Berg, klappt den Rock hoch, sodass ein VW-Käfer Diesel erscheint. Dann wechselt er verzweifelt unter theatralischem Augenrollen zwischen Plaketten in gelb, grün und rot hin und her, bis er zuletzt aufatmend eine blaue Euro-6-Plakette entdeckt.

Dazwischen gibt es immer wieder spannende Pausen, in denen der italienische Pantomime im Dunkeln unter dramatischen Glockenschlägen oder schweren Fußtritten die nächste Maske überzieht und dann plötzlich als gruseliger Zombie oder blutrünstiger Trex das hingerissene Publikum erschreckt.

Begeistert singen die Zuschauer mit, bei „Über den Wolken“ genauso wie bei Pippi Langstrumpf, Biene Maja oder den Schlümpfen. Sein Programm richtet der Künstler wenn möglich nach dem Veranstaltungsort. So hat er in Murrhardt viele deutsche Stars dabei, obwohl ihm hier das Synchronisieren zum Play-back schwer falle, weil er selbst kein Deutsch spreche. Als Zuschauer merkt man davon nichts – im Gegenteil. Manchmal zweifelt man, etwa ob das hohe Vibrato der Operndiva nicht tatsächlich aus dem inbrünstig aufgerissenen Mund der Persiflage komme.

In Deutschland gastiert der preisgekrönte Venezianer gern, selbst wie in Murrhardt vor kleinerem Publikum, denn es liege für ihn praktisch vor der Haustür, wie sein Veranstaltungsleiter Martin Lugger aus Südtirol erzählt, der auch Beleuchtung und Technik managt. Ansonsten seien sie weltweit unterwegs, zum Beispiel als Begleitprogramm zur Formel eins in Singapur, zu einem Kochduell in Abu Dhabi oder zu einer Fernsehshow in Peking, „manchmal vor 3000 Zuschauern“. Insgesamt zu 50 bis 80 Veranstaltungen im Jahr. Kapstadt – Rottweil – Bogotá wird aufgezählt, während der Künstler nach dem Auftritt die ringsum verstreuten Kostüme vom Boden aufsammelt und aufeinanderschichtet. Dann passen die bestimmt 50 Kleidungsstücke aus dünner Pappe zusammengerollt locker in eine handliche Lederdose. Ein Schrank wird nicht benötigt und bügeln braucht man sie auch nicht. Nur flicken sei ab und an angesagt.

Mit welchem Ideenreichtum und welch unglaublicher Kondition der immerhin schon 59-Jährige seit 30 Jahren das Publikum 60 Minuten lang durch ein Feuerwerk an Gags begeistert, ist unbeschreiblich. Man kann sich das nicht vorstellen - man muss es gesehen haben.

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Erstellt:
20. Juli 2019, 06:00 Uhr

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