Land der Akten und Normen
Deutschlands Bürokratie-Wahn führt zu kuriosem Job-Wunder
Ist ja irre! 325.000 Arbeitskräfte waren laut Betrieben seit 2022 zusätzlich nötig, um die ausufernde Bürokratie in Deutschland zu bewältigen. Diese Zahl stammt von der Bundesagentur Arbeit.

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Angesichts der Regelungsdichte in Deutschland könnte man den Eindruck haben, als ob die Republik mit Aktenordern geradezu zugepflastert ist.
Von Markus Brauer
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Nachtgedanken ist das vierundzwanzigste und abschließende Gedicht aus Heinrich Heines (1797-1856) im Jahr 1844 erschienenem Zyklus „Zeitgedichte“.
Der berühmte Eingangsvers ist seitdem zu einem geflügelten Wort geworden. Hoffnungsfroh schrieb Heine damals: „Deutschland hat ewigen Bestand, Es ist ein kerngesundes Land; Mit seinen Eichen, seinen Linden, Werd ich es immer wiederfinden.“
„Nur gemeinsam werden wir den Mehltau aus Bürokratismus abschütteln“
181 Jahre nach des großen Dichters Hymnen kränkeln die deutschen Wälder – genauso wie das Land. Ähnlich schwer zu bekämpfen wie der Mehltau an Pflanzen ist sein Bürokratismus.
„Nur gemeinsam werden wir den Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit abschütteln, der sich über Jahre, Jahrzehnte hinweg auf unser Land gelegt hat.“
Erinnern Sie sich noch an diesen Satz und an den, der ihn wie eine magische Zauberformel ausgesprochen hat. Er stammt aus einer Rede von Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag am 6. September 2023. Doch egal, welcher Kanzler dem Bürokratie-Pilz mit der Giftspritze auch zu Leibe rücken wollte und will: Bürokratieabbau ist eine dieser unsäglichen Politsprech-Floskeln, die in der Politik so unausrottbar sind wie eben Mehltau in der Pflanzenwelt.
Herrschaft der Verwaltung
Bürokratie kommt aus dem Französischen von „bureaucratie“, was Herrschaft der Verwaltung bedeutet. In einer Bürokratie ist alles bis ins Kleinste geregelt und streng geordnet, jeder hat seine klar umschriebene Aufgabe.
Vorschriften legen exakt fest, wie gehandelt werden muss. Kein Mitarbeiter einer Verwaltung wird etwas tun, wofür er nicht zuständig ist. Die sogenannten Dienstwege werden strikt eingehalten, jeder Vorgang wird in den Akten genau und lückenlos festgehalten.
Ausufernde Regelungsdichte
Bürokratischen Herrschern dürften sich viele Antragssteller in staatlichen Amtsstuben ausgeliefert fühlen. Denn die Regelungsdichte in Deutschland nimmt immer größere Ausmaße an. In den vergangenen zehn Jahren hat sie enorm zugenommen.
Wie aus einer Statistik der Bundesregierung hervorgeht, stieg sowohl die Zahl der bundesrechtlichen Gesetze als auch die Zahl der Einzelnormen in diesem Zeitraum stark an:
- Am 1. Januar 2014 galten noch 1671 Gesetze mit 44.216 Einzelnormen.
- Zu Beginn des Jahres 2024 waren es schon 1792 Gesetze, die aus insgesamt 52.155 Einzelnormen bestanden.
Betriebe klagen über Bürokratielast
Eine am Montag (20. Oktober) veröffentlichte Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt:
Bürokratieabbau wird von vielen gefordert. In den letzten drei Jahren sahen sich deutsche Unternehmen jedoch gezwungen, ihr Personal aufzustocken, um den Anforderungen der Ämter gerecht zu werden. https://t.co/UWch0cvqJE — FAZ Wirtschaft (@FAZ_Wirtschaft) October 20, 2025
- 14 Prozent der Betriebe in Deutschland bewerten ihre bürokratische Belastung im Jahr 2025 als sehr hoch. 2022 lag dieser Wert noch bei 4 Prozent.
- Jeder zehnte Betrieb hat in den letzten drei Jahren zudem mehr Personal eingestellt, um gesetzliche Vorgaben und Dokumentationspflichten zu erfüllen. Das entspricht 325.000 zusätzlich eingestellten Personen.
- Jeweils 30 Prozent der Großbetriebe mit mindestens 250 Beschäftigten und der mittelgroßen Betriebe mit 50 bis 249 Beschäftigten geben an, seit 2022 zusätzliches Personal für Verwaltungsaufgaben rekrutiert zu haben.
- Demgegenüber stellten nach eigenen Angaben 16 Prozent der Betriebe mit 10 bis 49 Beschäftigten und 7 Prozent der Kleinstbetriebe mit weniger als 10 Beschäftigten mehr Personal ein, um gesetzliche Anforderungen zu erfüllen.
- Im Bereich Energieversorgung berichtet jeder fünfte Betrieb von zusätzlichem bürokratiebedingten Personalaufbau, gefolgt von Öffentlicher Verwaltung/Verteidigung/Sozialversicherung mit 19 Prozent sowie Erziehung und Unterricht mit 17 Prozent.
- In den Branchen sonstige Dienstleistungen, Kunst/Unterhaltung/Erholung sowie Information und Kommunikation ist dies am seltensten der Fall.
Mehr Jobs nötig, um Bürokratie zu bewältigen
„Der Beschäftigungszuwachs zur Bewältigung der gestiegenen Bürokratie umfasst nur einen Teil der zusätzlichen Kosten, die von den Unternehmen getragen werden müssen“, erklärt IAB-Forscher André Diegmann.
- Insgesamt beklagen 80 Prozent der Betriebe höhere Kosten als Folge von gestiegener Bürokratie.
- Dies übersetzt sich zum Teil in einen Verlust der Produktivität, der von 55 Prozent der Betriebe berichtet wird.
- Weitere 19 Prozent der Betriebe geben Wettbewerbsnachteile an und 16 Prozent — insbesondere Großbetriebe — sehen in den gestiegenen Aufwendungen auch eine Hürde für Innovationen.
- Zwei Drittel der Betriebe nennen die Datenschutzgrundverordnung als häufigste bürokratische Belastung.
- Mit deutlichem Abstand folgen die EU-Verordnungen zur IT-Sicherheit mit 32 Prozent sowie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz mit 14 Prozent.
„Eine sinnvolle Möglichkeit wäre es, zukünftige Gesetze und Verordnungen zunächst befristet einzusetzen und mit einem ergebnisoffenen Prüfauftrag zu verbinden. Mit diesem Verfallsdatum könnte die Politik auf Basis dieser Ergebnisse die weitere Gültigkeit oder Ausgestaltung der Regelungen anpassen“, erläutert IAB-Forscher Alexander Kubis.
Die Studie basiert auf der IAB-Stellenerhebung, einer regelmäßigen Betriebsbefragung. Im ersten Quartal 2025 liegen für 9209 Betriebe Angaben zu ihrer bürokratischen Belastung vor.
Ausufernde Regelungsdichte
1306 Einzelgesetze mit 39.536 Normseiten
Deutschland steht unter einer immensen Bürokratielast. Der Bürokratieindex des Wirtschaftswissenschaftlers Stefan Wagner von der Universität Wien in Zusammenarbeit mit ESMT Berlin und der Internetplattform www.buzer.de zeigt nun, dass der Umfang geltender Bundesgesetze immer weiter ansteigt und sogar ein neues Rekordhoch erreicht hat.
- Anfang 2025: 1306 Einzelgesetze mit 39.536 Normseiten
- Während der Umfang aller Bundesgesetze im Jahr 2010 noch bei 1082 Einzelnormen mit insgesamt rund 24.775 Normseiten lag, hat er Anfang 2025 bereits 1306 Einzelgesetze mit 39.536 Normseiten erreicht. Damit ist das Volumen der Gesetzgebung innerhalb von 15 Jahren um etwa 60 Prozent angewachsen.
- Auch im Vergleich zum Vorjahr 2024 hat er sich trotz aller politischen Bekenntnissen zum Bürokratieabbau nochmals um 2,5 Prozent erhöht. Dies zeigt, dass die Regulierung in Deutschland nicht abnimmt, sondern weiter zunimmt.
Überproportionale Zunahme von Regelungen
Fokussiert man auf die vier umfangreichsten Rechtsgebiete (klassifiziert nach dem System der Fundstellennachweise), zeigt sich, dass der Zuwachs seit 2010 vor allem durch überproportionale Zunahme von Regelungen im Bereich Finanzwesen (+88 Prozent) und Wirtschaftsrecht (+110 Prozent) getrieben ist, während die Zunahme in den Bereichen Verwaltung (+54 Prozent) sowie Sozialgesetzgebung (+46 Prozent) deutlich langsamer ist.
Bürokratische Hürden belasten nicht nur Unternehmen, sondern auch die Bürger. Wagner warnt: „Die derzeitige Betrachtung der Bundesgesetzgebung ist nur ein Teil des Problems. Ein noch größerer Anteil der gesetzlichen Regelungen findet sich in Durchführungsverordnungen, Landesgesetzen und der EU-Gesetzgebung. Die tatsächliche Bürokratiebelastung dürfte daher noch weit höher sein.“
Bürokratie kostet jährlich 146 Milliarden Euro
Die Bürokratie in Deutschland kostet einer Untersuchung des Münchner Ifo-Instituts zufolge 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung pro Jahr. „Die Kosten von Nichtstun sind riesig, gemessen am Wachstumspotenzial, das im Bürokratieabbau schlummert“, erklärt Ifo-Forscher Oliver Falck. Allein mit einer digitalisierten öffentlichen Verwaltung wäre die Wirtschaftsleistung demnach fast 100 Milliarden Euro höher.
„Der Schaden im dreistelligen Milliardenbereich ist gigantisch. Es darf nun keinen Verzug mehr geben“, fordert der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) für München und Oberbayern, Manfred Gößl.
Prinzip der Gewaltenteilung
Dichter ist das Dickicht der Vorschriften allerdings nicht nur auf der Ebene der vom Bundestag beschlossenen Gesetze geworden, sondern auch bei den Rechtsverordnungen, mit denen die Exekutive Details regelt.
Die Exekutive ist die sogenannte vollziehende oder ausübende Gewalt. Sie umfasst die Regierung und die Verwaltung, der in erster Linie die Ausführung der Gesetze anvertraut ist.
Das sogenannte Prinzip der Gewaltenteilung ist in Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verankert. Danach wird die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt.
Explosion der Einzelnormen
- Am Stichtag 1. Januar 2014 gab es laut Bundesregierung 2720 bundesrechtliche Verordnungen mit 38.192 Einzelnormen.
- Zehn Jahre später bestanden die zum Stichtag 1. Januar geltenden 2854 Rechtsverordnungen des Bundes aus 44.272 Einzelnormen.
Zu viele bürokratische Auflagen und umfangreiche Berichtspflichten waren neben hohen Energiepreisen von Wirtschaftsverbänden zuletzt besonders häufig als Belastung genannt worden.
Vor allem den Grünen wird oft ein Hang zu überkomplexen Regelungen im Dienste der Einzelfallgerechtigkeit nachgesagt. Getrieben von dem Wunsch, möglichst keine Fallkonstellation außer Acht zu lassen, entstehen so manchmal Regelwerke, die für juristische Laien kaum noch zu durchdringen sind (mit AFP/dpa-Agenturmaterial).