Die Frage nach dem wahren Leben

Philosophische Marktstunde: Gespräch in großer Runde im BücherABC – Ansätze reichen vom Ideal bis zu völliger Prozesshaftigkeit

Wie heißt es so schön – lebe wild und gefährlich! Allerdings gebe es da noch das Gegenkonzept des entspannten Sofahockers oder des auf Achtsamkeit bedachten, ernährungsbewussten Vertreters, der versucht, Familien- und Berufsleben in Einklang zu bringen. Lassen sich für das Streben, den richtigen, vielleicht auch seinen richtigen Weg zu finden, irgendwelche Kriterien finden? Die philosophische Marktstunde hat sich mit der Frage nach dem wahren Leben befasst.

Was braucht es für das wahre Leben? Einen Ausblick beim Aufwachen auf ein atemberaubendes Panorama? Einen Partner, mit dem man die Erlebnisse teilen kann? Ein Ausbrechen aus den gewohnten Bahnen? Bei der Marktstunde gab es da ganz verschiedene Ansichten. Foto: Adobe Stock/Lukas

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Was braucht es für das wahre Leben? Einen Ausblick beim Aufwachen auf ein atemberaubendes Panorama? Einen Partner, mit dem man die Erlebnisse teilen kann? Ein Ausbrechen aus den gewohnten Bahnen? Bei der Marktstunde gab es da ganz verschiedene Ansichten. Foto: Adobe Stock/Lukas

Von Christine Schick

MURRHARDT. Das neue Format der Volkshochschule Murrhardt erfreut sich großen Zuspruchs. Der ist vor allem weiblicher Natur und beachtlich, gemessen dran, dass frau sich zu Markteinkaufszeiten losreißen muss und auch einige potenzielle Teilnehmer verhindert sein dürften, da sie berufstätig sind. Eine ganze Reihe von Frauen haben sich in die Buchhandlung BücherABC in der Grabenstraße aufgemacht, um in großer Runde bei Kaffee und Keksen über die Frage zu sprechen, was das wahre Leben sein könnte und ob es Möglichkeiten gibt, sich dem durch bestimmte Praktiken oder Haltungen anzunähern.

Kirstin Krack und Dorit Pusch halten als Moderatorinnen immer wieder Impulse bereit, regen aber gleichzeitig zum eigenen Philosophieren an. Friedrich Wilhelm Nietzsche beispielsweise hat sich mit der Frage nach dem wahren Leben beschäftigt. Kirstin Krack verweist auf die akribische Selbstbeobachtung, die einerseits schon fast belauernd gegenüber der eigenen Person wirkt, andererseits auch den Willen zur Macht im Sinne von Dirigentschaft einer Vielstimmigkeit widerspiegelt. Die inneren Gedanken habe Nietzsche als belebend, als so etwas wie das wahre Leben, wahrgenommen. Gleichzeitig wird als bestimmendes Element das Moment der Wiederholung, die Wiederkehr immer gleicher Strukturen herausgearbeitet. Angesichts von Lebendigkeit und Wiederholung als Eckpfeiler fragt Kirstin Krack: „Und was sind Ihre Kriterien?“ Die erste spontane Antwort: „Es gibt viele wahre Leben. Im Grunde kann man das nur selbst fühlen, ich merk das meistens auch körperlich.“ Das hätte Nietzsche unterschrieben, meint Kirstin Krack.

Dorit Pusch spinnt den Gedanken von Wiederholung weiter in Richtung Karma und Wiedergeburt, der beinhaltet, etwas erneut durchleben zu müssen, um es besser zu machen. Eine Teilnehmerin will da eher an das Konzept der Selbstwirksamkeit anknüpfen, sprich die Fähigkeit, innere und äußere Herausforderungen in Eigenregie zu bewältigen. „Aber man kann auch scheitern“, stellt Dorit Pusch fest. Ob Ziele oder bestimmte Etappen gelängen, sei oft ungewiss.

Eine weitere Marktstundenphilosophie-Mitstreiterin stellt aber auch diese Perspektive infrage und in den Raum, ob nicht das Scheitern sogar Erfolg sein könne, weil es letztlich zur Veränderung zwingt. Sie vergleicht das Scheitern damit, an Grenzen zu stoßen. Wie viel Leistungsdenken steckt in diesen Überlegungen? Kirstin Krack erinnert daran, dass es Nietzsches Anspruch gewesen sei, immer über seine Grenzen hinauszugehen und ihm die Angst den Weg gewiesen habe. Dahinter steht das Ideal einer stetigen Weiterentwicklung. Eine andere Stimme: Aus alten, festgefahrenen Verhaltensmustern auszubrechen, ist enorm schwer. Und Kirstin Krack fragt, wieso man sich überhaupt solch einem Konzept unterwerfen und nicht lieber nach radikaler Freiheit streben solle? Dorit Pusch lässt ein Bild Nietzsches sprechen: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch — ein Seil über einem Abgrunde“ (aus dem Werk „Also sprach Zarathustra“).

Ausbrechen, Grenzen überwinden und die menschliche Zerrissenheit

Die beiden Dozentinnen bringen eine weitere Ebene ins Spiel: Was kann die Philosophie zur Frage nach dem wahren Leben überhaupt beitragen? Ist sie in ihrem Wesen nicht viel zu entrückt, vergeistigt und vernachlässigt gerade die Bereiche wie Leiblichkeit und konkretes, alltägliches Handeln? Die Runde ist sich einig, dass zwar das Denken nicht eins zu eins in Handeln umgesetzt wird, aber eine intensive Auseinandersetzung die Verbindung wahrscheinlicher und einfach auch Freude machen kann. Eine erzählerische Metapher: Ein Maler ist über die Arbeit an einem Bild alt geworden und während sich seine Freunde noch über das Werk unterhalten, verschwindet er selbst in der Szenerie. Sie beschreibt das wahre Leben als eine mehr oder weniger ästhetische Vorstellung, die aber große Anziehungskraft ausübt. Auch hier kommt Widerspruch. Die Idee von einem finalen Bild hat kaum jemand, vielmehr nähert man sich mühsam in kleinen Schritten dem an, was sich als erstrebenswert entwickelt hat. Das Prozesshafte wird betont.

Allerdings möchte eine Mitstreiterin die oft zitierte Angst oder krisenhafte Situation als Antreiber durch den positiven Kern der Leidenschaft ersetzen – zumindest für sich. Dorit Pusch greift auch noch mal die beiden Pole Konzept versus Leben auf. Letzteres kann einem immer wieder einen Strich durch die schön gezeichnete Idee machen, was angesichts von ideologischen Elementen bestimmter Konstrukte gar nicht so schlecht erscheint. „Nach dem Sinn sucht trotzdem jeder“, stellt eine Teilnehmerin fest. Diese Tatsache ist auch ein Thema für die Psychologie, die festgestellt hat, dass es in einer modernen Gesellschaft so etwas wie ein Bedürfnis gibt, den eignen Lebensentwurf als stimmig und entlang eines roten Fadens zu interpretieren, obwohl sich genau daran auch zweifeln lässt, ergänzt Kirstin Krack. Dorit Pusch führt den Gedanken fort und fragt, ob eine akribische Pflege der Innerlichkeit ein erfülltes Leben bedeute.

Auch der Selbstzweifel gehört mittlerweile zum Szenarium: Was, wenn man sich nur einredet, gerne auf dem Sofa zu sitzen, aber im Grunde genommen lieber aktiv sein möchte? Die Sinnfrage jedenfalls scheint öfters in krisenhaften Phasen aufzutauchen. Eine Teilnehmerin macht plötzlich klar: „Für die besten Dinge im Leben brauch ich ein Gegenüber, jemand, mit dem ich sie teilen kann.“ Doch dann wird das Bedürfnis dagegengestellt, sich zurückzuziehen beziehungsweise den Genuss in produktiver Einsamkeit zu suchen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach braucht es beides, in welchem Mischverhältnis ist sicher individuell unterschiedlich. Das große Interesse an der philosophischen Marktstunde jedenfalls spiegelt auch die Lust am Austausch wider.

Info
Die nächsten Themen

Kommende Termine, jeweils 10 bis 11 Uhr:

Freitag, 24. April, in der Volkshochschule Murrhardt zum Thema „Naturphilosophie – Wie ist unser Verhältnis zur Natur?“

Freitag, 29. Mai, in der Stadtbücherei zum Thema „Sprachphilosophie – bildet Sprache die Wirklichkeit ab?“

Freitag, 26. Juni, in der Volkshochschule Murrhardt oder im Stadtpark zum Thema „Ästhetik – Was ist schön?“

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Erstellt:
15. Februar 2020, 06:00 Uhr

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