„Lulu“ im Wilhelma Theater
Die Frau, die ein Chamäleon war
Die Opernschule der Stuttgarter Hochschule für Musik spielt im Wilhelma Theater Alban Bergs „Lulu“: Ein grandioser Abend, der aber Fragen offenlässt.

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Von Susanne Benda
Und noch eine Leiche. „Ich bin mir vollständig abhandengekommen“, singt der Maler, bevor er verzweifelt das Messer an die Kehle führt. Sein Tod ist der zweite, den in Alban Bergs Oper „Lulu“ die Protagonistin auslöst. Durch die drei Akte des Stücks zieht sich ein blutig roter Faden. Warum? Und ist Lulu Täterin oder Opfer der Umstände und der Gesellschaft? An diesen Fragen haben sich seit der (posthumen) Uraufführung der unvollendeten Oper 1937 viele Regisseure die Zähne ausgebissen. Auch die literarischen Vorlagen des Stücks, Frank Wedekinds Schauspiele „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“, lassen die Antwort offen. Dafür hat Regisseur Bernd Schmitt bei der Premiere am Donnerstag im Stuttgart Wilhelma Theater gleich vier Antworten gegeben. In der Produktion der Opernschule hat Lulu vier Gesichter, vier Stimmen, vier Kostüme, vier Rollen und vier markante Charakterzüge: Wir erleben sie als naive, weiß geschminkte Clownin mit puppenhaften Zügen und Bewegungen, als selbstbewusste, rebellische Frau, als Projektionsfläche und schließlich auch als ewige (Un-?)Tote, berechenbar nur in dem, was sie bei anderen auslöst. Lulu ist eine Schimäre, ein Chamäleon, eine Gestaltenwandlerin, eine Katalysatorin.
Männer als Echsen
Die Idee ist überwiegend stimmig. In manchen Szenen, in denen die Lulus lange Gesangsstrecken in Einzelbrocken zerteilen, geht das Konzept musikalisch nicht ganz auf. Aber die Vierteilung der Titelfigur verstärkt ihre Ungreifbarkeit. Sie macht deutlich, wie wenig ihr mit der Moralkeule beizukommen ist. Und sie verstärkt eine Eigenschaft des Stücks, die sonst oft unterbelichtet bleibt: „Lulu“ erzählt nicht nur eine todtraurige Geschichte, sie ist auch eine Komödie. Die Dialoge sind voller Buffo-Elemente. Schmitt greift die Tiermetaphern im Libretto auf, lässt die Männer als Echse auftreten, als Esel oder als Nashorn-Quartett. Die gegeneinander gekippten schrägen Bodenelemente, die Annette Wolf auf die Bühne gestellt und mit zahlreichen Luken versehen hat, sind ebenfalls ausgesprochen komödientauglich. Tür auf, Tür zu, Klappe zu, Affe tot
Alban Berg hat seine Oper nicht vollendet. 2010 hat Eberhard Kloke aus Friedrich Cerhas Komplettierung eine Version für Kammerorchester erstellt. Diese sorgt für viel Klarheit im Klang, setzt auf gesprochene Dialoge und lässt in einem modular konzipierten dritten Akt Freiheiten bei der Kombination und Instrumentierung. Die Musizierenden im Graben – das erweiterte Stuttgarter Kammerorchester, dazu Bläserinnen und Bläser anderer Musikhochschulen, die hier als Erasmus Ensemble Stuttgart auftreten – gelangen unter Bernhard Epsteins Leitung nicht nur zu hoher Präzision, sondern gestalten auch Bergs ein wenig vor sich hin mahlernde Zwischenspiele mit viel Lust an süffigen Farben und Emotionen.
Auch gesanglich wird viel geboten. Vier Lulus, das heißt vier Mal Hochrisiko-Koloraturgesang, und Katharina Holzapfel, Elena Salvatori, Cecilia Seo und Alba Valdivieso meistern diese Aufgabe meistens sehr gut. Herausragend gestaltet die Mezzosopranistin Chiara Bäuml die Rolle der Geschwitz. Auch Andi Jin kann sich stimmlich wie darstellerisch in gleich drei Rollen exzellent in Szene setzen. Dass die großen und mittleren Rollen überwiegend von Gästen übernommen werden, stimmt allerdings nachdenklich. Warum programmiert die Opernschule eine Oper, die sie aus eigenen Reihen gar nicht besetzen kann? So gut Isaac Tolley als Dr. Schön, Patrik Hornák als Maler, Mathias Tönges als Athlet, Sewon Oh als Alwa und Siegfried Laukner als Schigolch auch sind, und so interessant eine Begegnung mit dieser Fassung der „Lulu“ auch sein mag: Die Produktionen im Wilhelma Theater sollten vor allem dem Nachwuchs eine Plattform für erste Bühnenerfahrungen bieten, sonst kommt sich die Institution selbst vollständig abhanden. Und der Abend lohnt trotzdem – unbedingt!
Termine 17., 19., 21., 23., 25. und 27. Juni