Die Suche nach dem Augenblick

Eigentlich feiern wir ja schon seit Wochen Weihnachten. Aber jetzt steht’s auch im Kalender. Was bleibt zu tun?

Von Tim Schleider

Was um alles in der Welt sollen wir jetzt noch feiern? Weihnachten? Das machen wir doch schon seit Wochen in Dauerschleife. Alle Weihnachtslieder sind längst gehört, alle Weihnachtsfilme im Fernsehen längst gelaufen, alle Weihnachtsfeiern längst überlebt. Und Geschenke gibt’s auch schon seit 1. Dezember, denn die einschlägigen Kalender haben Ausmaße erreicht und bieten Präsente, die vor einigen Jahren noch einem Heiligabend alle Ehre gemacht hätten.

Wirklich alles, was in zugegeben vergangenen Zeiten das Besondere der zweieinhalb Feiertage vom späten Nachmittag des 24. bis zum späten Abend des 26. Dezember ausmachte, genießen wir inzwischen schon lange vorher. Was soll an Weihnachtsfreude nun noch „on top“ kommen, wie es neudeutsch heißt? Nun gut, bei den meisten ist es die anstehende familiäre Zusammenkunft an den Festtagen. Doch jeder weiß ja aus früheren Jahren: So ein (groß-)familiäres Beisammensein kann sehr schön, sehr lustig, sehr rührend, sehr kuschelig werden. Es kann aber auch ganz anders kommen.

Es ist schon seltsam, wie wir es geschafft haben, ausgerechnet dieses Fest namens Weihnachten so in die Breite auszuwalzen. Denn im Kern steht Weihnachten ja gerade nicht für Wohligkeit auf jetzt und ewig. Sondern es steht für einen einschneidenden Punkt, einen Augenblick, den Moment einer Verwandlung. Für ein Ereignis, das so überraschend, so unerwartet, so überwältigend eintritt, dass es alles auf den Kopf stellt, was bisher sicher, eingeübt, erwartbar erschien. Für Christen ist dies die Nacht, in der Gott zum Menschen wird – und plötzlich gar nichts großes, herrschaftliches an sich hat, sondern schlicht ein Neugeborenes ist. Eben darum ist Weihnachten für Christen nicht irgendeine, sondern die Heilige Nacht.

Wir alle wissen schon noch genau, wie ein einzelner Augenblick alles auch in unserem Leben verändern kann. Allerdings verbinden wir dies zumeist mit schlimmen Momenten. Das kann der Augenblick sein, wenn der Arzt eine schlechte Diagnose mitteilt. Das kann der Augenblick sein, wenn man erfährt, dass eine gute Freundin, ein nahe stehender Mensch verunglückt, verstorben ist. Das kann der Augenblick sein, wenn der Partner ausspricht, dass er sich ein gemeinsames Leben nicht länger vorstellen mag. Es reicht aber auch schon der Augenblick, in dem der Chef mitteilt, dass sich das Unternehmen von einem trennen müsse.

In solchen Momenten fühlen wir uns getroffen „wie aus heiterem Himmel“ – und wir sind übrigens auch in der Weihnachtszeit vor solchen Augenblicken keineswegs sicher, aller Kerzengemütlichkeit zum Trotz. Doch die Heilige Nacht steht just für das genaue Gegenteil: für den Moment, in dem sich aus dunkelstem Himmel heraus plötzlich alles zum Guten wendet, zumindest zum Guten wenden kann. Nicht, weil irgendein Zauberspruch das Schlechte aus der Welt verbannt hätte. Sondern weil wir spüren: Es ist nicht egal, was uns, was mir geschieht. Es soll sich etwas ändern. Es kann sich etwas ändern.

Lässt sich dieses überwältigende Gefühl irgendwie in zweieinhalb Weihnachtsfeiertagen nachempfinden? Jedenfalls könnten ein paar Dinge dabei unterstützen: Raus aus der Dauerschleife, rein in den Augenblick. Raus aus dem digitalen Gewittersturm, rein in das analoge Hallo. Raus aus dem schon immer so Gewohnten, rein ins Ausprobieren. Raus aus den feierlichen Ansprachen, rein ins Zuhören. Raus aus rumposaunten „großen Gefühlen“ und „magischen Momenten“, rein ins Leise, Vorsichtige, Zarte. Und dann, und sei’s auch nur für kurze Zeit: Stille. Man muss eh keine Angst haben, zu Weihnachten ein wichtiges „Liked“ oder „Shared“ zu verpassen. Denn die wichtigste Nachricht ist längst in der Welt: Licht – trotz allem.

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Erstellt:
23. Dezember 2025, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
23. Dezember 2025, 23:58 Uhr

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