Polizistenmord in Mannheim
Elitepolizisten hätten nicht anders gehandelt
Im Gericht und im Internet urteilen die, die nicht dabei waren: Kollegen trügen eine Mitschuld am Tod des Polizisten Rouven Laurs. Doch stimmt das?

© dpa
Der am 31. Mai 2024 verletzte und zwei Tage später verstorbene Polizeihauptkommissar Rouven Laur.
Von Franz Feyder
Für den in die Jahre gekommenen Kerl vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht ist die Sache klar: „Die anderen Polizisten sind doch schuld am Tod von Rouven Laur“, sagt er. Rückt Brille und Kappe zurecht. Lächelt, der linke Mundwinkel etwas höher als der rechte, die Lippen locker geschlossen. Seine Hände versenkt er in den Hosentaschen unter dem Bauch. Seine Sympathie für die selbst ernannte Bürgerbewegung „Pax Europa“ (PE) verbirgt er kaum. Er lässt seine Behauptung nachklingen. „Die Polizisten standen nur rum, die haben nicht einmal die Waffe gezogen“, sagt er. Vor einem Jahr, als Sulaiman A. am 31. Mai auf dem Mannheimer Marktplatz PE-Aktivisten und den Polizeihauptkommissar Rouven Laur mit einem Messer angriff. Sie teilweise schwer verletzte; Laur so schwer, dass er zwei Tage später verstarb.
„Ich hab‘ nämlich das Video angesehen“, platzt es aus dem Mann heraus. Die Höhe seiner Stimme steigt, vibriert leicht. Mit „Ha!“ beendet er seine Aussage.
Die Beweisaufnahme im im Gerichtssaal 1 in Stuttgart-Stammheim hört sich anders an: Er habe nur den Kopf des mutmaßlichen Attentäters hinter dem seines angegriffenen Kollegen kurz in der Visierlinie gesehen, sagt der Polizist, der auf Sulaiman A. schoss – und so die Bluttat beendete. Hier soll er Marco heißen. Zusammen mit sechs aktiven und früheren Angehörigen von Spezial- oder spezialisierten Einheiten der Polizei und Bundeswehr sowie zwei Einsatztrainern hat unser Reporter sich das Video der Tat ungezählte Male angeschaut. Mit dabei Gundram Lottmann, erfahrener Kriminalist und Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Die Frage für die Männer der GSG 9, von Spezialeinsatzkommandos (SEK) und Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE): Hätten sie an Marcos Stelle und die seiner Kolleginnen und Kollegen geschossen? Wann hätten sie geschossen? Sie berücksichtigen zudem, was die Richterin und vier Richter des 5. Strafsenats bislang an 16 Verhandlungstagen rekonstruierten.
Phase vor der Tat
Phase vor der Tat
Gegen 11 Uhr erreichen 22 Polizisten des Einsatzzuges Mannheim mit fünf Gruppenfahrzeugen den Marktplatz der Stadt. Sie parken die Autos vor dem alten Rathaus und bereiten sich auf ihren Einsatz vor. „Ein ganz normaler Ablauf“, sagt der BFE-Mann. „Grundsätzlich sind Bereitschaftspolizisten früher vor Ort: sie essen und trinken etwas, gehen zur Toilette – tun alles, was sie während des Einsatzes nicht mehr tun können. Sie legen ihre Ausrüstung an.“
Genau das hat die Beweisaufnahme auch ergeben. Vor Einsatzbeginn spricht der den Einsatz leitende Polizeiführer, ein erfahrener Beamter, mit den „Pax-Europa“-Aktivisten über die Veranstaltung. Dann kehrt der Erste Polizeihauptkommissar zu den beiden Zugführern der Mannheimer zurück, um mit ihnen die anstehenden Aufgaben zu besprechen: Laur war einer der Zugführer. Bereits in dieser Zeit umstreicht Sulaiman A. den Info-Stand: blauer Gartenpavillon, langer Tisch mit Broschüren, umgeben von einem Wall mit Plakaten. Unter den Statuen des Marktbrunnens, die vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser symbolisieren, ein weißer Auto-Transporter der Paxianer.
„Ich sah aus dem linken Augenwinkel etwas umfallen“, sagte Marco aus. Der Info-Stand verstellt ihm und seinen Kollegen den Blick auf den Marktplatz. Die Polizisten nehmen einen Tumult im Bereich des Marktbrunnens wahr - und spurten ohne auf ein Kommando zu warten in dessen Richtung.
Die Messerattacke
Die Messerattacke
Etwa 45 Meter rennen sie. „In dieser Zeit hatten sie keine Informationen, was überhaupt los war“, sagt Gundrum Lottmann. „Sie hörten Geschrei, etwas umfallen, mehr nicht.“ „In so einer Situation wird sofort gehandelt“, sagt der BFE-Mann. „Den Geräuschen nach mussten die Kollegen von einer Schlägerei ausgehen. Sie sind mit 22 Beamten vor Ort, damit überlegen. Dann geht man in die Auseinandersetzung; trennt, fixiert und sortiert dann, wer ist überhaupt wer.“
Als die Polizisten den Wall aus Plakaten durchbrechen und erstmals Sicht haben, sehen sie: Links von ihnen liegt ein Mann auf dem Boden. Etwas entfernt hocken zwei weitere auf einem dritten, auf dem Boden liegenden Mann. Zu dessen Hüfte die Füße eines liegenden „Pax-Europa“-Aktivisten. Angreifer Sulaiman A. ist also überwältigt und am Boden fixiert, als von rechts ein Mann heranstürmt, der Zeuge K.. Er reißt L. weg – und befreit so den Angreifer Sulaiman A.. Fast gleichzeitig mit K. erreicht Laur die Gruppe und greift nach K.. Links von den Polizisten beim Brunnen gehen zwei Männer langsam auf das Geschehen zu. Das Messer A.s ist nicht zu sehen. „Das Bild einer beginnenden Massenschlägerei“, bewertet Lottmann.
Eine Polizistin erkennt die Waffe. Schreit warnend: „Messer, Messer!“
In den nächsten 1,7 Sekunden bringt Laur K. zu Boden. Sieben weitere Polizisten kommen hinzu. Zeitgleich springt A. vom Boden auf, in seiner Rechten das Messer. Eine Polizistin erkennt die Waffe. Schreit warnend: „Messer, Messer!“ Marco weicht zwei Schritte zurück, greift mit der linken Hand zur Pistole. Wie eine Kollegin links, eine andere rechts von ihm. Direkt daneben ein Unbeteiligter.
„Die Warnung wirkt wie eine Wand, gegen die man läuft: Die Kollegen bremsen, gehen zwei, drei Schritte zurück, um Distanz zwischen sich und dem Angreifer zu schaffen. Sie ziehen ihre Dienstwaffe und bringen sie in Anschlag“, beschreibt ein Einsatztrainer. In den nächsten 0,7 Sekunden bringt Marco seine Pistole in Anschlag und visiert grob über den Lauf A. an. „Eine sehr schwierige Situation für den Schützen: Er hat L. und K. vor sich auf Boden liegen. Laur kniet auf K. mit dem Rücken zum Angreifer. In der Verlängerung sind noch die beiden Männer am Marktbrunnen“, analysiert ein GSG-9-Mann. „Du weißt nicht, was in der nächsten Sekunde passiert: Erkennt der Kollege den Angreifer in seinem Rücken, richtet sich auf und wendet sich ihm zu? Wie reagieren die beiden Männer am Boden? Du weißt als Schütze nur: zu hohes Risiko!“, ergänzt ein SEKler. „Hätte jemand von Euch geschossen?“ Alle schütteln den Kopf.
Eine Sekunde weiter: A. holt mit dem rechten Arm aus und sticht in den Nacken Laurs. Der hat den Angreifer bislang nicht bemerkt hat und fixiert K. auf dem Boden. L. richtet sich zwischen Marco und Laur langsam auf. Marco macht einen Schritt nach rechts. „Er kann in dieser Phase nicht schießen, ohne L. und den Kollegen massiv zu gefährden. Marco zielt zwar über die Visiereinrichtung seiner Pistole. Er dürfte aber in einem sehr dynamischen Geschehen nicht mehr als einen Teil des Kopfes des Angreifers erkannt haben“, wertet ein GSG-9er. „Während Marco einen zweiten Schritt nach rechts macht, ist L. auf den Beinen und läuft mit fuchtelnden Armen in Richtung der anderen Polizisten. Von denen haben mindestens zwei ihre Pistolen gezogen. Können aber wegen L. nicht schießen“, ergänzt ein anderer. „Wie verantwortungsbewusst die Kollegen hier vor einem Schusswaffengebrauch in Sekundenbruchteilen intuitiv die Lage bewerten ist vorbildlich“, fasst Lottman die Diskussion zusammen.
„Dem Kollgen gehört das Bundesverdienstkreuz verliehen“
Weitere 0,9 Sekunden später erfolgt der tödliche Stich Sulaiman A.s auf Rouven Laur. Marco macht in dieser Zeit zwei weitere Schritte seitwärts. Als A. gerade seinen Arm zurückreißt, schießt Marco in einer weiteren Seitwärtsbewegung. Trifft A., der zu Boden geht. „Das war nicht die beste Möglichkeit, bei der Marco schoss. Das war die erste Möglichkeit, in der er überhaupt schießen konnte“, sagt ein SEK-Polizist. Die anderen nicken. „Der Junge hat Rückgrat: in einer Seitwärtsbewegung zu schießen und zu treffen, da gehört was zu“, sagt ein 9er. „Dem Kollgen gehört das Bundesverdienstkreuz verliehen“, sagt ein SEKler.
Vier Sekunden nach Marcos Schuss sind sieben Polizisten im Video zu sehen, die von rechts auf ihren verletzten Kollegen und den am Boden liegenden Angreifer zu rennen. Vier von ihnen haben ihre Dienstwaffen gezogen, ein weiterer verstaut seine Pistole wieder. „Die drei Kollegen konnten nicht schießen, weil Unbeteiligte in ihrem Schussfeld waren“, erklärt ein Einsatztrainer.
Er beginnt sofort, dem verwundeten Angreifer Erste Hilfe zu leisten
Neun Sekunden nach dem Schuss beugt sich eine Polizistin über den angeschossenen Sulaiman A., eine Sekunde später auch Marco. Er beginnt sofort, dem verwundeten Angreifer Erste Hilfe zu leisten. Gundram Lottmann sagt: „Die Kollegen hier, die für solche Einsätze trainiert sind und mehr Schießtraining haben, kommen zum Schluss, dass die Kolleginnen und Kollegen des Einsatzzuges, besonders Marco, sehr vorbildlich und sehr verantwortungsvoll handelten. Keiner hätte im Bruchteil einer Sekunde anders als Marco oder die Kollegen gehandelt. Dass der schießende Kollege dem Angreifer Erste Hilfe leistet, hätte man früher nur mit dem Begriff ‚Ritterlichkeit‘ treffend beschrieben.“