Ereignisse aus Sicht der kleinen Leute

Der Historiker Gerhard Fritz präsentiert spannende Details aus seinem neuen Buch „Murrhardter Sozialgeschichte von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (etwa 1550 bis 1620)“.

Die Stadtkirche in Murrhardt ging aus der ehemaligen Klosterkirche hervor – und das Kloster wiederum war einst ein wichtiger Arbeitgeber in der Stadt. Archivfoto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Die Stadtkirche in Murrhardt ging aus der ehemaligen Klosterkirche hervor – und das Kloster wiederum war einst ein wichtiger Arbeitgeber in der Stadt. Archivfoto: J. Fiedler

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Die fesselndsten und interessantesten Episoden schrieb die reale Menschheitsgeschichte. Vor allem, wenn man diese nicht „von oben“ aus der Perspektive der Herrscher und Politiker betrachtet, sondern der einfachen Leute, also „von unten“. Insofern ist das neue Buch von Professor Gerhard Fritz „Murrhardter Sozialgeschichte von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (etwa 1550 bis 1620)“ eine echte Fundgrube für alles, was sich in diesem Zeitraum in unserem Städtle zutrug. „Darüber ist bisher nur wenig bekannt“, fand Bürgermeister Armin Mößner bei der offiziellen Präsentation und Übergabe der historischen Untersuchung, an deren Druckkosten sich die Stadt beteiligte. So wussten nur wenige Experten von den dramatischen Auswirkungen des damaligen Klimawandels: Die Temperaturen sanken, weshalb man den Weinbau am Hofberg aufgab. Doch wäre dessen Reaktivierung angesichts des aktuellen Klimawandels eventuell ein interessantes Gemeinschaftsprojekt, fand Mößner im voll besetzten Heinrich-von-Zügel-Saal. Der Zeitraum des Buches liege „fast genau in der Mitte der sogenannten Kleinen Eiszeit, in der die Durchschnittstemperatur etwa 1,5 Grad weniger als heute betrug“, erklärte Verleger und Naturwissenschaftler Manfred Hennecke.

Ausgehend von alten Aktenrestbeständen früherer Untersuchungen recherchierte Gerhard Fritz in diversen Archiven für das Buch. Der Murrhardter Historiker sichtete eine Vielzahl unterschiedlicher Schriftquellen, praktisch „alles, was aus jener Zeit noch vorhanden ist“, wie Rechnungs-, Kauf- oder Kirchenbücher. Daraus könne man Erkenntnisse über verschiedenste Aspekte gewinnen. Einige wichtige stellte der Dozent an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd in seiner Präsentation heraus.

Bedeutende Wirtschaftszweige der Walterichstadt waren die Viehzucht und der Handel mit Bau- und Brennholz, das man auf der flößbaren Murr zu den größeren Städten der Region transportierte. Im Städtle deckten Handwerker diverser Berufe den Basisbedarf ab, indes gab es damals zwar Bader, aber weder Arzt noch Apotheke oder Luxusartikel, dazu musste man nach Stuttgart oder Schwäbisch Hall. „Murrhardt war keine Amtsstadt, sondern Anhängsel des Klosters“, schneide aber bei den Vermögensstrukturen „nicht so schlecht ab: Es gab einen erstaunlich soliden Mittelstand.“

Die Klimakrise führte zu Missernten und Hungersnöten, so 1570/71: „Da gab’s überhaupt nichts, sodass die Murrhardter Getreide in Schwäbisch Hall kaufen mussten. In ihrer Not schrieben sie an den Herzog, der verpflichtet war, für seine Untertanen zu sorgen. Zwar nahm er deren Sorgen ernst, doch war die Landesregierung zu abgehoben von den Nöten der kleinen Leute. Denn sie empfahl, die Murrhardter sollten einen Kredit aufnehmen, um Lebensmittel in Großbottwar zu kaufen, doch auch dort war nichts mehr zu bekommen“, erklärte der Historiker. Ein Problem war auch, dass der Herzog stets ein besseres Bild von der Situation seines Landes vermittelt bekam, als diese tatsächlich war. Denn kaum war bekannt, dass der Herzog das Städtle besuche, „war vorher die Hölle los“: Die Handwerker brachten die Gebäude innen und außen auf Vordermann, fertigten neue Möbel an, und die Frauen putzten alles blitzblank, damit es überall gut aussah.

Im Anhang des Buches finden sich Landkarten, aus denen hervorgeht, wie groß Pfarrei und Klosteramt waren. Auch veranschaulichen sie die komplizierte politische Situation, da in der Region verschiedene Herrschaftsgebiete zusammentrafen. Das Buch gibt auch Auskunft darüber, wie Stadtverwaltung und Landesregierung funktionierten. Der Vogt reiste öfter zu Pferd nach Stuttgart mit einem Reitknecht, übernachtete in Schwaikheim und speiste in der Mensa, also Kantine, der Regierung oder in einem der Lokale. Für ein gutes Arbeitsklima lud der Vogt die Regierungsräte zum Abendessen ein, auch waren sogenannte Neujahrsverehrungen in Form von Degen für den Herzog, Münzen für die Räte und teure Täschchen für deren Damen üblich. „Das war Korruption nach heutigen Maßstäben, aber im 16. und 17. Jahrhundert völlig normal, so funktionierte das System.“ Geldabgaben transportierte man in Geldsäckchen nach Stuttgart, und trotz der verbreiteten Räuberkriminalität „ist offenbar nie etwas passiert“.

Einmal pro Jahr erfolgte eine Klostervisitation durch den Dekan von Marbach am Neckar. Aus dessen Berichten geht hervor, dass Verwaltung und Einwohner der Walterichstadt in der Zeit der Hexenverfolgung „viel vernünftiger als andere“ blieben: Zwar sei ab und zu Merkwürdiges und auch Zauberei vorgekommen, aber „in Murrhardt wurde niemand auf den Scheiterhaufen gebracht“.

„Die Murrhardter waren keine frommen Untertanen, die alles schluckten, sondern selbstbewusste Bürger“, betonte Fritz. Darum gab es im 16. Jahrhundert zwei Bürgeraufstände. Ursache dafür war 1537 ein Kredit der Stadt ans Kloster, den dieses nicht zurückzahlte, und 1564/65 forderten die Bürger die Verwaltung auf, ihre schriftlich festgelegten Rechte vorzulesen, was aber die Amtsleute ihnen verwehrten. Überdies habe eine strikte, sehr effiziente protestantische Sexualmoral geherrscht: Die Zahl der unehelich geborenen Kinder lag unter einem Prozent, folglich „gab es nur sehr wenig Sexualität außerhalb der Ehe“.


Murrhardter Sozialgeschichte von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (ca. 1550 bis 1620), Band 10 der Reihe Historegio, Verlag Manfred Hennecke, Remshalden 2020. 298 Seiten, mehrere Karten, 16,80 Euro. ISBN 978-3-948138-01-1.

Ereignisse aus Sicht der kleinen Leute

© Jörg Fiedler

„Die Murrhardter waren keine frommen Untertanen, die alles schluckten, sondern selbstbewusste Bürger.“

Professor Gerhard Fritz

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Erstellt:
13. Juli 2020, 06:00 Uhr

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