Europa verzwergt sich selbst
Die EU müsste auf viele Krisen reagieren. Doch sie verliert sich in krämerischem Gezerre.
Von Eidos Import
Friedrich Merz hat recht. Europa darf nicht zum Spielball von Großmächten werden. In einer sich ändernden Weltordnung müssten „wir“ eine zentrale Rolle spielen, forderte der Bundeskanzler. Das Wörtchen „wir“ hat er vor dem EU-Gipfel in Brüssel gezielt gesetzt, es erschien fast wie ein flehentlicher Appell. Denn anders, als der Kanzler behauptete, hat Europa nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Und auch in einem zweiten Punkt liegt er daneben: Der Gipfel war alles andere als eine Demonstration europäischer Souveränität.
Recht hat Merz allerdings darin, dass die EU sich mit der größten Bedrohung ihrer Geschichte konfrontiert sieht: Russland führt seinen imperialen Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern will mit hybriden Übergriffen auch die EU zerstören. Der massive wirtschaftliche Druck aus China gefährdet unseren Wohlstand und die USA zielen mit ihren ständigen Angriffen auf das politische Fundament der Union. Doch was macht das zerstrittene Europa? Die Staaten verlieren sich in kleinstaatlichen, krämerischen Auseinandersetzungen. Kann es da verwundern, dass US-Präsident Donald Trump die EU auf dem Schrotthaufen der Geschichte sieht?
In diesem Sinne war der EU-Gipfel in Brüssel ein Offenbarungseid, ein Beleg dafür, dass wir von einem geeinten Europa weit entfernt sind. Wie tief die nationalen Egoismen sitzen, hat der Streit über die Verwendung des eingefrorenen russischen Staatsvermögens und das EU-Mercosur-Abkommen beim EU-Gipfel in Brüssel gezeigt.
Die 27 Staaten haben es nicht geschafft, ein Freihandelsabkommen zu unterzeichnen, das seit über einem Vierteljahrhundert verhandelt wird. Geradezu irrwitzig erscheint das Verhalten der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, die vor einer überstürzten Unterschrift warnte. Mit ihrer Blockade hat sie erreicht, dass die Unterzeichnung noch einmal verschoben wird. Dabei war es auch für Europa noch nie so sinnvoll wie jetzt, sich als globale und positiv gestaltende Wirtschaftsmacht zu zeigen.
Es entstünde ein Freihandelsraum mit mehr als 700 Millionen Menschen. Nicht nur die Staaten Südamerikas hätten die Möglichkeit, den immer enger werdenden Würgegriff Chinas zu lockern und dem in den USA praktizierten, vulgärkapitalistischen Recht des Stärkeren etwas entgegenzusetzen. Doch Giorgia Meloni machte sich im Schlepptau des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Büttel des heimischen Agrarsektors.
Zumindest im Fall der Ukraine hat die EU Handlungsfähigkeit bewiesen. Allerdings war auch hier nichts von jener Entschlossenheit zu spüren, die Europas Politiker in ihren Reden gerne an den Tag legen. In der Ukraine sterben jeden Tag Menschen, doch in Brüssel wurde über Buchungstricks gestritten.
Gut ist immerhin, dass Kiew das Geld nun bekommt, denn ohne stabile Finanzierung hält die Ukraine weder im Krieg noch im Frieden durch. Kiew erkauft sich so Zeit im Abwehrkampf gegen Russland. Das ist ein schwerer Schlag für den Kreml, denn Zeit ist in dem seit fast vier Jahren andauernden Krieg inzwischen die wichtigste strategische Ressource Russlands.
Europa aber muss in einer feindlichen Umwelt zum strategischen Akteur zu werden. Die Herausforderungen für die Wirtschaft, im Bereich Klimaschutz und auch bei der Verteidigung können nur gemeinsam gelöst werden. Und die EU muss sich endlich der Frage stellen, wie sie sich selbst versteht. Ob sie auch bereit ist, die Kosten und das Risiko einer größeren Eigenständigkeit auf sich zu nehmen und als strategischer Akteur zu agieren. Die Signale vom EU-Gipfel in Brüssel sind ernüchternd. Dort wurde eher an der eigenen Verzwergung gearbeitet.
