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Europarat warnt vor Aushöhlung der Menschenrechte

Neun EU-Länder fordern in einem Brief eine Überprüfung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Damit haben sie einen Streit über die Unabhängigkeit des Gerichts entfacht.

Alain Berset, Generalsekretär des Europarates, warnt davor,  die Unabhängigkeit des Gerichtshofs für Menschenrechte in Zweifel zu ziehen.

© SEBASTIEN BOZON/AFP

Alain Berset, Generalsekretär des Europarates, warnt davor, die Unabhängigkeit des Gerichtshofs für Menschenrechte in Zweifel zu ziehen.

Von Knut Krohn

Der Europarat wehrt sich gegen die politische Instrumentalisierung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Grund ist der offene Brief von neun EU-Staaten, die mehr Freiräume bei der Abschiebung straffällig gewordener Ausländer fordern. Sie kritisieren, dass die Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention in manchen Abschiebefällen zum Schutz der falschen Personen geführt habe.

Europarat meldet sich mahnend zu Wort

Alain Berset, Generalsekretär des Europarates, meldet sich nun mahnend zu Wort. Die Unabhängigkeit des Gerichtshofes dürfe nicht in Zweifel gezogen werden. In einer von Rechtsstaatlichkeit bestimmten Gesellschaft dürfe keine Justiz politischem Druck ausgesetzt sein, betonte der Schweizer. „Institutionen, die Grundrechte beschützen, können sich nicht politischen Zyklen beugen.“ Der Gerichtshof dürfe nicht zur Waffe gemacht werden - weder gegen Regierungen noch von ihnen. Der Europarat überwacht die Einhaltung der Konvention.

In dem Brief der neun EU-Staaten wird eine „neue und offene Diskussion“ über die Auslegung der Menschenrechtskonvention verlangt. Italien und weitere beteiligte Länder waren zuvor vor dem Gerichtshof wegen ihres Umgangs mit Migranten verklagt worden. Gegen Italien und Dänemark ergingen diesbezügliche Urteile oder Aufforderungen, Handlungsweisen zu ändern. Unterschrieben haben das Papier auch Österreich, Belgien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen und Polen.

Berlin gehört nicht zu den Unterzeichnern

Deutschland gehört nicht zu den Unterzeichnern. Der deutsche Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille verwies am Wochenende auf Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), der sehe „keine Veranlassung, Gerichtshöfen Briefe zu schreiben“. Verurteilen will die Bundesregierung die Initiative allerdings nicht. Deutschland beteilige sich „aktiv an den europäischen Diskussionen, wie wir legale Migration begrenzen können“, sagte der Sprecher. Dazu gehöre auch die aktuelle Initiative der neun Staaten.

Heftige Diskussionen hat der Brief in Belgien ausgelöst. Regierungschef Bart de Wever, der das Papier unterschrieben hat, sieht sich scharfen Angriffen ausgesetzt. Für Mittwoch ist eine öffentliche Aussprache im Parlament angesetzt. Der Premier erklärt dazu, er habe den Brief in Rücksprache mit der gesamten Regierungskoalition unterschrieben. Dabei kommt es zu einer für Belgien typischen politischen Konstellation. Denn die Sozialistische Partei aus dem wallonischen Teil verurteilt den Schritt scharf, während die Schwesterpartei aus Flandern hinter dem Premier stehen.

Scharfe Angriffe auf Belgiens Premier

Die Fraktion der Sozialistischen Partei weist außerdem darauf hin, dass es nicht das erste Mal sei, dass der nationalkonservative Premier internationales Recht in Frage stelle. Bart de Wever hatte vor einigen Wochen öffentlich erklärt, dass er den internationalen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu nicht vollstrecken würde, sollte dieser Belgien besuchen. Oppositionspolitiker fragen nun, wie weit der Premier noch gehen würde in seiner Missachtung der Rechtsstaatlichkeit.

Zudem müsse Bart de Wever erklären, warum er sich in die zweifelhafte Gesellschaft der postfaschistischen, italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni begeben habe, die Initiatorin des Briefes. Allerdings verschwimmen in diesem Fall die politischen Grenzen, denn eine der treibenden Kräfte hinter dem Projekt war nicht nur Meloni, sondern auch die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen – eine Sozialdemokratin. Eine Tatsache, auf die der konservative belgische Außenminister Maxime Prévot süffisant hinweist.

„Ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit“

Françoise Tulkens, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und in Belgien eine Art Institution in Rechtsfragen, mahnt, das unabhängige Gericht in solche politischen Auseinandersetzungen hineinzuziehen. „Natürlich ist dies ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit“, betont die 82-Jährige. Mit solchen Briefen lege man die Axt an die Wurzeln der Grundrechte.

Und auch Europarat-Generalsekretär Alain Berset warnt vor den unmittelbaren Folgen. Der Gerichtshof sei das einzige internationale Gericht, das über Menschenrechtsverletzungen im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine urteile. „Dies sollte nie untergraben werden,“ betont der Schweizer und befürchtet offensichtlich, dass die Schwächung internationalen Rechts vom Kreml in Zukunft schamlos ausgenutzt werden könnte.

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Erstellt:
25. Mai 2025, 13:58 Uhr

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