100 Tage Schwarz-Rot
Friedrich Merz: Der Mann, der sich vielleicht traut
Friedrich Merz will als Kanzler anders sein als Angela Merkel und Olaf Scholz. Wagt er unpopuläre Reformen?

© Michael Kappeler/dpa
Wie sieht Friedrich Merz Deutschland?
Von Tobias Peter
Da ist er. Da ist der wirkliche Friedrich Merz. Der Bundeskanzler guckt leicht nach unten – aber das liegt nicht daran, dass er etwas von oben herab sagen wollte. Er sitzt nur etwas erhöht. Merz sucht höflich den Augenkontakt zur Journalistin, die gefragt hat, ob er die steigenden Sozialbeiträge im Land einfach so hinnehme. Das will er nicht. Seine Antwort hat es in sich.
Die Bevölkerung müsse wissen, sagt der Kanzler, „dass für Altersvorsorge, Gesundheit und Pflege auch höhere Anstrengungen von uns allen unternommen werden müssen“. Merz hebt bei jedem einzelnen Punkt, den er bei seinem Sommerauftritt in der Bundespressekonferenz erwähnt, den Stift in seiner rechten Hand leicht an. „Die Rufe nach dem Staat sind Rufe an uns alle selbst“, sagt er dann. Friedrich Merz spricht langsam, betont jedes einzelne Wort. „Der Staat sind wir alle, einen anderen gibt es nicht.“
Das war Mitte Juli, kurz vor der Sommerpause. Jetzt, Mitte August, ist Friedrich Merz 100 Tage als Kanzler im Amt. Der CDU-Chef trat auch als Gegenmodell an zur langjährigen Kanzlerin seiner Partei, Angela Merkel. Sie hatte ihm mit ihrem Erfolg vor mehr als 20 Jahren den Weg nach ganz oben zunächst verstellt. Der inhaltliche Bruch zwischen den beiden wurde später in der Flüchtlingspolitik besonders sichtbar. Doch es gibt noch zwei viel grundsätzlichere Punkte, wie Merz sich in seinen Überzeugungen von Angela Merkel und auch von seinem Vorgänger Olaf Scholz unterscheidet.
Eine Sprache, die auch verletzen darf
Der erste ist: Merz bevorzugt eine deutliche Sprache – auch auf die Gefahr hin, dass Zuhörer sie als verletzend empfinden. Er will nicht, dass die Menschen sagen, man könne „die da oben“ nicht einmal mehr verstehen. Der 69-Jährige aus dem Sauerland ist schon sein ganzes Leben überzeugt: Demokratie lebt davon, dass Unterschiede deutlich werden. Angela Merkel lebte nicht davon, dass sie verständlich sprach, sondern davon, dass sie Sicherheit ausstrahlte. Scholz versuchte, das zu kopieren, strahlte aber trotzdem keine Sicherheit aus, weil er Kanzler in einer chronisch zerstrittenen Ampelkoalition war.
Der zweite zentrale Unterschied in den Grundüberzeugungen zwischen Merz auf der einen und Merkel/Scholz auf der anderen Seite ist: Für Merz steht das Individuum im Mittelpunkt, dem zur Lösung gesellschaftlicher Probleme etwas zugemutet werden kann und muss. Merkel sah das auch mal so – bis sie den sicher geglaubten Wahlsieg im Jahr 2005 auf diese Weise fast noch verlor. Danach wurde sie vorsichtig. Scholz ist überzeugt, dass der Staat ökonomische Härten ausgleichen und den Menschen so das Gefühl vermitteln muss, es werde gut ausgehen. Er war als Kanzler viel mehr Sozialdemokrat als Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder.
Merz ist geprägt von den vielen Malen, die er in den USA war. Er ist von Herzen Transatlantiker, auch wenn ihm gerade deshalb Donald Trumps egomanisches Verhalten das Herz bricht. Sein Blick auf das Verhältnis von Staat und Bürger ist amerikanischer als bei den meisten anderen deutschen Politikern. Mit den Worten Kennedys: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“
Der Blick von außen auf den deutschen Sozialstaat
Der CDU-Chef Merz hat bereits in der Vergangenheit oft die Perspektive von außen in die deutsche Debatte eingebracht. Gerade bei sozialpolitischen Fragen erinnerte er gelegentlich fast an jemanden, der nach einer Zeit im Ausland wieder in Deutschland ist, sich die Augen reibt und fragt: Was erwarten die Menschen hier nur alles vom Staat?
Doch lebt Merz seine Grundüberzeugungen auch als Kanzler? Macht er es anders als Merkel und Scholz? Oder steckt in Wahrheit viel mehr von seinen beiden letzten Vorgängern in ihm, als er selbst gedacht hätte?
Eines vorab: Es ist ein positives Zeichen von Kontinuität, dass sich bei Merz zu jedem vorherigen Regierungschef neben Unterschieden auch Parallelen finden lassen. Konrad Adenauer stand für die Westbindung, Ludwig Erhard für Grundsätze in der Wirtschaftspolitik, die nun auch Merz leben möchte. Kurt Georg Kiesinger war Kanzler in einer Koalition aus Union und SPD, die große Unterschiede überbrücken musste.
Mit dem unbedingten Ehrgeiz Gerhard Schröders
Mit Willy Brandt teilt Merz einen Hang zum Pathos. Mit Helmut Schmidt, auch „Schmidt Schnauze“ genannt, die Fähigkeit, kräftig auszuteilen. Gerhard Schröder, der in Juso-Zeiten bei einer Kneipentour mit den Worten „Ich will da rein“ am Zaun des Kanzleramtes rüttelte, hatte wie Merz den unbedingten Ehrgeiz, Kanzler zu werden. Die stärkste Verbindung hat Merz zu Helmut Kohl: in der Liebe zu Europa.
Und was ist mit Merkel und Scholz? Mit der früheren CDU-Chefin Angela Merkel verbindet Merz auf jeden Fall das Parteibuch. Und mit Olaf Scholz die Haltung, an der Seite der von Russland überfallenen Ukraine zu stehen. Doch gibt es womöglich noch weit mehr an Gemeinsamkeiten?
Bei der Sprache hat Friedrich Merz den Politikwechsel wahr gemacht. Zwar finden sich bei ihm nun auch gelegentlich nichtssagende Schachtelsätze in den Reden. Doch – egal ob man diese Worte zynisch oder klar und ehrlich findet – den Satz, dass Israel beim Iran die „Drecksarbeit“ für die Verbündeten mache, hätten Scholz und Merkel nie gesagt. Es ist kein Widerspruch, dass Bundeskanzler Merz nun einen Stopp für die Lieferung von Waffen verhängt hat, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Auch das ist Klarheit.
Die neue Schuldenpolitik des Friedrich Merz
Und bei der Haltung zum Staat? Friedrich Merz hat im Wahlkampf den Eindruck erweckt, kaum etwas läge ihm so fern wie eine Lockerung der Schuldenbremse. Und dann hat er nach der Wahl die erste Gelegenheit genutzt, um dies zu tun.
Jetzt hat er, was durchaus wichtig ist, genug Geld für die Bundeswehr. Geplant sind in den kommenden Jahren aber nicht nur Militärausgaben und Investitionen in die Infrastruktur. Es gibt auch jede Menge konsumtive Ausgaben – wie die Ausweitung der Mütterrente und die Absenkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie. Soll das der neue Staat sein, der den Bürgern auch etwas abverlangt?
Merz wirkte in den ersten Wochen nach der Wahl zeitweise wie einer, der erst vollmundig tönt, er werde jetzt einen Kopfsprung vom Zehnmeterbrett machen – am Ende dann aber nur seine Füße am Beckrand kühlt.
Merz weiß noch nicht, wie viel Merz er sich in seiner Regierungszeit selbst zutraut. In der Bundespressekonferenz bleibt er – trotz seines klaren allgemeinen Bekenntnisses – vage, was echte Schritte zur Reform des Sozialstaats angeht.
Wird Friedrich Merz in den kommenden Jahren seiner Kanzlerschaft sich auch für harte Reformen verkämpfen? Die Antwort könnte auch davon abhängen, ob er sich eines klar macht: Wer mit 69 Jahren Kanzler wird, für den kann es Wichtigeres geben als die Wiederwahl. Von Olaf Scholz als Kanzler hat Merz häufig Führung eingefordert. Diese Rufe richten sich nun an ihn selbst.