Gefährlicher Opferstock, gestohlener Frosch

Bei einer Kirchenführung rund um die Walterichskirche und den Walterichshügel im Murrhardter Stadtgarten hält Manfred Schurr jede Menge spannende historische Einblicke bereit, gewürzt mit Anekdoten und überlieferten Geschichten.

Manfred Schurr vermittelt auf der Führung viel, geht aber auch immer wieder auf Fragen ein, die aus der Gruppe kommen. Fotos: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Manfred Schurr vermittelt auf der Führung viel, geht aber auch immer wieder auf Fragen ein, die aus der Gruppe kommen. Fotos: Stefan Bossow

Von Ute Rohrmann

Murrhardt. Mit Kirchenführer Manfred Schurr in Geschichte und Geschichten vergangener Jahrhunderte eintauchen konnte eine zehnköpfige Gruppe, die bei schönstem Wetter den Ausblick vom Walterichs-hügel genoss und das Ambiente um Kirche und Friedhof kennenlernte. Niemand sah auf die Uhr und plötzlich waren aus den anberaumten anderthalb Stunden Führung mehr als zwei geworden. Die überschaubare Gruppengröße trug dazu bei, dass sich die Teilnehmerinnen – fast ausschließlich Damen in reiferem Alter – immer wieder mit interessierten Fragen und kleinen Anmerkungen beteiligten, auf die Schurr freundlich und kompetent einging. Ob zu Besuch aus Stuttgart, neu zugezogen oder schon länger in der Murrhardter Umgebung zu Hause – für alle war Wissenswertes dabei.

Zu den Schätzen der Walterichskirche gehört zweifellos das Grab des Murrhardter Ortsheiligen Walterich, das im Frühjahr 1963 entdeckt wurde – im Zuge der Ausgrabungen, die auf Initiative von Rolf Schweizer im Zusammenhang mit der Kirchenrenovierung erfolgten. Somit konnten Zweifel an der Existenz des als wundertätig verehrten ersten Klosterabts beseitigt werden, wie Schurr erläuterte. Die Inschrift der ursprünglichen Grabplatte nenne den 29. November als Todestag, kein Jahr. Dies sei nicht relevant gewesen, da jedes Jahr eine Totenmesse gelesen worden sei, erklärte der Kirchenführer. Zwischen 830 und 840 dürfte es gewesen sein.

Zeitsprung: 1785 ist der erst 23-jährige Georg Friederich Wengerts, der an einer Nervenkrankheit litt, gestorben. Als Dreijähriger musste er den Stadtbrand miterleben. Der Schwanenwirt, offensichtlich vermögend, ließ für seinen Sohn ein opulentes Grabmal bei dem berühmten Bildhauer und Steinmetz Conrad Ludwig Söhnle anfertigen. Das barocke Kunstwerk mit der Überschrift „Jesus lebt“ sowie viel Text und viel Symbolik lässt sich im Altarraum der Walterichskirche bewundern, der durch einen Türbogen vom Kirchenraum getrennt ist. Dies verweist auf vorreformatorische Zeiten, als nur der Priester Zutritt zum Heiligen Altar hatte und die Kirche noch Marienkirche hieß.

Die Angst vor dem plötzlichen Tod

Direkt an der Kirche, an der Ostseite, die Auferstehungshoffnung symbolisiert, liegen die Gräber der Ehrenbürger der Stadt: Reinhold Nägele und Erich Schumm. Kirchenführer Manfred Schurr machte auf das Gemälde an der Kirchenfassade aufmerksam. Doch nur mit ziemlich viel Fantasie lässt sich die um 1300 entstandene Christopherus-Darstellung erkennen. „Die Menschen im Mittelalter fürchteten sich vor einem plötzlichen Tod. Das Betrachten des Christopherus-Bilds sollte sie davor bewahren“, so Schurr. Die kleine Aussparung an derselben Wand sei der Platz für die Totenleuchte gewesen, die im Mittelalter den Tod eines Menschen angezeigt habe und bis zur Beerdigung nicht verlosch. Wie aus einfachen Tatsachen Vermutungen entstehen und daraus Geschichten, die bald für wahr gehalten werden, dafür ist Kirchherr Walter ein Beispiel, auf dessen Tod im Jahr 1372 eine Inschrift rechts an der Ostwand verweist. Dass er Pestkranke gepflegt, sich dabei angesteckt und selbst an der Krankheit gestorben sei, dafür gebe es keinerlei Belege, sagt der Kirchenführer.

So hübsch, wie sich die Römerbrücke in das Landschaftsbild beim Friedhof auch einfügt – das Bauwerk, heute eine Blendarkade (Verzierung durch Bögen), hat nichts mit römischen Zeiten zu tun, weiß Schurr. Und dass der römische Tempel einst dem Mithraskult diente, ist nach heutigem Wissensstand widerlegt.

Mit am eindrucksvollsten an der Führung war, als Manfred Schurr den sonst verschlossenen Außenaltar öffnete und ein buntes, holzgeschnitztes Kunstwerk voller Dynamik zum Vorschein kam. Der Ölberg, wie er auch bezeichnet wird, gehöre zu den verbreiteten Andachtsmotiven im ausgehenden Mittelalter. Das Besondere an der Murrhardter Darstellung sei die Dramatik: Jesus ringt im Garten Gethsemane noch im Gebet und zeitgleich sind schon seine Häscher da. Neben Judas, als Verräter gelb gewandet, steht der Scharfrichter mit einem Strick. Auch Zeitkritik steckt in der Darstellung. So trägt Judas einen Ablassbeutel und der ungeliebte Herzog Ulrich, dem ein Bürger die Zunge herausstreckt, wird karikiert. Dies sei möglich gewesen, da sich Ulrich zu dieser Zeit in der Verbannung in Hessen befunden habe, erläuterte Schurr, der noch eine Anekdote aus der Nachkriegszeit parat hatte: Ein amerikanischer Soldat habe den kleinen Frosch aus dem Kunstwerk mitgehen lassen, dann aber wohl ein schlechtes Gewissen bekommen und ihn per Post wieder nach Murrhardt zurückgeschickt.

Mehrere Szenen aus der Passionsgeschichte enthält dieser besondere Flügelaltar, jedoch keine Kreuzigungsszene. Vielleicht gab es die in der Kapelle im Beinhaus ein paar Schritte weiter neben der Kirche. Dort wurden lange die Knochen der Verstorbenen aufbewahrt, die in Leinensäcken bestattet und nach wenigen Jahren exhumiert wurden.

Vier Bauphasen verändern die Kirche

Geschichten ranken sich auch um den Opferstock neben der Eingangstür der Walterichskirche, die seit Erbauung der Urkirche 730 in vier Bauphasen jeweils größer wurde und ein anderes Gesicht bekam. Wenn man gelogen habe und dann die Hand in den Opferstock stecke, werde die einem abgehackt, erzählten sich die Kinder. Die Erwachsenen seien indes davon ausgegangen, dass im Opferstock heilende Wärme auf die gebende Hand strahle.

Bis zu 1000 Pilger seien zwischen Gründonnerstag und Ostermontag zur Walterichskirche gekommen. Viele erhofften sich Heilung an Walterichs Grab. Manche Wallfahrer seien die 73 Stufen der Pilgerstaffel auf den Knien hochgerutscht, so der Kirchenführer. Auch nach der Reformation seien die Osterwallfahrten fortgeführt worden – auch so mancher Protestant hätte lieber auf Nummer sicher gehen wollen. 1933 sei die Praxis durch die Nazis unterbunden worden, 1947 musste die baufällige Treppe nach einem Unwetter abgebaut werden. Eingedenk der über 100-jährigen Tradition wurde vor drei Jahren mithilfe vieler privater Spender sowie mit Fördermitteln aus dem Ländle und Europa eine neue Treppe mit nunmehr 91 Stufen neben der ursprünglichen errichtet.

Blick auf die neue Pilgertreppe, die über den Walterichshügel nach oben zur Kirche führt.

© Stefan Bossow

Blick auf die neue Pilgertreppe, die über den Walterichshügel nach oben zur Kirche führt.

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Erstellt:
18. April 2024, 06:00 Uhr

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