Neu im Kino: „Zikaden“
Im Schraubstock der Alltäglichkeit
Wenn es hart wird, muss der Mensch auch mal ausrasten dürfen. Nicht so in Ina Weisses Generationendrama „Zikaden“. Aber: Ist es spannend, anderen beim Aushalten zuzusehen?

© epd/Lupa Film/Judith Kaufmann
Kommen aus unterschiedlichen Welten: Nina Hoss (links) und Saskia Rosendahl in „Zikaden“
Von Kathrin Horster
Brandenburg ist nicht die Provence, und trotzdem zirpen im Sommer die Zikaden in den Gärten der Datschen. Das ist auch das Einzige, was Isabell (Nina Hoss) im eleganten Wochenendhaus ihrer greisen Eltern genießen könnte, wenn sie denn Ohren dafür hätte. Der Bau ist ihr ein Klotz am Bein, eine Verpflichtung, wie der nach einem Schlaganfall schwer behinderte Vater (Rolf Weisse) und die kaum weniger gebrechliche Mutter (Inge Weisse).
Dass Isabell sowohl an den Eltern als auch an deren altem Kasten hängt, ist keine Frage. Der Vater, früher ein renommierter Architekt, hat die neu-sachliche Villa aus rotem Klinker mit weißen Fensterrahmen eigenhändig geplant. Wohl wegen ihm ist Isabell selbst Architektin geworden. Anstatt aber wie er etwas zu gestalten, scoutet sie bloß Immobilien für betuchte Klienten.
Die Ehe ist nur ein Klammern an Gewohnheiten
Wie Isabells Job ist auch die Ehe mit Philipp (Vincent Macaigne) zur Enttäuschung geworden. Der Ingenieur findet in Paris keine Arbeit und muss deshalb mit Isabell in Deutschland leben, wo es für sie mehr zu tun gibt als für ihn. Philipp will zurück nach Frankreich, Isabell will sich um die Eltern kümmern, die eine Pflegekraft nach der anderen verschleißen. Das Paar ist entfremdet, die Ehe nur ein Klammern an Gewohnheiten.
Die Welt wirkt eng in Ina Weisses drittem Spielfilm „Zikaden“, als steckten die Figuren im Schraubstock einer deprimierenden Alltäglichkeit. Wenn man Isabell, ihrem Mann und den alten Eltern so zusieht, wie sie sich von Tag zu Tag schleppen, mit all den Sorgen, imaginären To-do-Listen und unterschwelligen Ängsten vor dem unaufhaltsamen Verfall der Dinge und Menschen, will man eigentlich die Augen schließen und etwas anderes sehen. Denn was Ina Weisse hier zeigt, blüht im Prinzip jedem früher oder später.
Das deutsche Kino ist abseits des infantilen Klamauks von Komikern wie Bully Herbig oder dem Rustikalhumor von Schema-F-Handwerkern wie Til Schweiger besonders für Problemdramen bekannt, die das Leben in der Bandbreite seiner Düsternis abbilden.
Beide Frauen strampeln verbissen gegen Widrigkeiten
Zuletzt hat das erstaunlich unterhaltsam Matthias Glasner mit seinem Drei-Stunden-Epos „Sterben“ (2024) geschafft, in dem drei Geschwister mit ihren siechen Eltern, teils lebensmüden Freunden und eigenen Ambitionen hadern. In Weisses Generationendrama „Zikaden“ geht es weniger spektakulär und schon gar nicht wild zu. Ein Phänomen, dass die Filmemacherin ihr Publikum dennoch bei der Stange halten kann. Der emotional ausgelaugten Tochter und Ehefrau Isabell stellt Weisse die wesentlich jüngere Mutter Anja (Saskia Rosendahl) gegenüber, die mit ihrer sechsjährigen Tochter auf dem Grundstück neben der Villa von Isabells Eltern lebt. Anja kann sich kaum um ihr Kind kümmern, weil sie im Billiglohnsektor in Schichten ackert, erst als Spülhilfe in einer Großküche, später am Tresen einer Bowlingbahn. Anjas Tochter stromert sich selbst überlassen durch die Landschaft, schnorrt mit Spielkameraden Fremde um ein paar Euro an der Dorftanke an, später kommt es beinahe zur Katastrophe, als die Kinder eine Ruine anzünden. Anstatt aber die Ereignisse bis zum Äußersten zu eskalieren, beobachtet Ina Weisse bloß, wie sich die Figuren in ihrer Misere winden. Obwohl Anja und Isabell aufgrund ihrer Herkunft und ihres Temperaments sehr unterschiedlich erscheinen, ähneln sie sich in ihrem verbissenen Strampeln gegen Widrigkeiten.
askia Rosendahl spielt Anja als scheue Mimose, die sich bei geringster unachtsamer Berührung zurückzieht und andere lieber im Unklaren lässt über ihre verfahren prekären Lebensumstände, als Hilfe anzunehmen. Nina Hoss gibt Isabell als stille Pragmatikerin, die ihre Traurigkeit im Inneren verkapselt, um nach Außen als Managerin ihrer Eltern zu funktionieren.
All das erzählt Ina Weisse sachlich und in aufs Notwendigste beschränkten Dialogen. Nur manchmal überlädt sie die realistischen Szenen mit elegischer Klaviermusik. Dabei wirkt die Erzählung am intensivsten, wenn Weisse nur zuschaut, wie Isabells Vater angesichts seiner alten Architekturzeichnungen die Tränen über die Wangen kullern oder Anja stumm ihre Tochter hält.
Es gibt ein Happy End, und das ist banal
Dass Ina Weisse sämtliche Konflikte nur anreißt anstatt sie auszuformulieren und dadurch ihre Figuren der Chance beraubt, den Schraubstock der Alltäglichkeit aufzusprengen, wird im Verlauf des Films jedoch zum Problem. Statt einer erlösenden Klimax fließt der Plot einem sehr alltäglichen, sehr banalen Happy End entgegen. Als habe der Mensch nach überstandenen Enttäuschungen und Verlusten nicht viel mehr zu erwarten als einen gleichförmigen Zustand der Zufriedenheit.
Zikaden. Deutschland, Frankreich 2025. Regie: Ina Weisse. Mit Nina Hoss, Vincent Macaigne, Saskia Rosendahl. 100 Minuten. Ab 6 Jahren.
Film und Leben
Ina Weisse Die Regisseurin und Schauspielerin, geboren 1968 in West-Berlin, ist wie die Figur Isabell im Film „Zikaden“ Tochter eines Architekten. Die Rolle des alten Vaters in „Zikaden“ spielt Ina Weisses Vater Rolf, Weisses Mutter Inge übernimmt die Rolle von dessen Frau.
Nina Hoss 1975 in Stuttgart geboren, studierte mit Kollegen wie Lars Eidinger und Devid Striesow an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. In Ina Weisses Drama „Vorspiel“ (2019) spielte sie eine Geigenlehrerin, die ihr Kind zugunsten eines Schülers vernachlässigt.
Saskia Rosendahl Die Schauspielerin, Jahrgang 1993, stammt aus Halle, wo sie erstmals im Kinderballett der Oper auftrat. Von 2019 bis 2022 spielte sie in „Babylon Berlin“. Zuletzt war sie an der Seite von Lars Eidinger in Matthias Glasners Drama „Sterben“ (2024) zu sehen.