Im Zentrum stehen viele Fragezeichen

Ein Jahr vor der WM hat die Nationalelf noch keine neue Mitte gefunden, dabei werden dort viele Spiele entschieden. Auf der Doppelsechs galt Leon Goretzka lange als gesetzt – es ging nur darum, wer neben ihm spielen darf. Doch die junge Konkurrenz macht immer mehr Druck.

Von Carlos Ubina

Stuttgart - Julian Nagelsmann achtet ja sehr auf Kleinigkeiten. Auf dem Platz, wenn es um die freien Räume für die Angriffe, die passende Abstände zwischen den Mannschaftsteilen und die richtige Positionierung der Verteidiger geht. Beinahe detailverliebt kommt einem der Bundestrainer in all diesen taktischen Feinheiten vor. Aber der 37-Jährige schaut auch, was sich jenseits der Kabine abspielt. „Er hat bei den Physios geholfen, aufzuräumen“, sagt Nagelsmann über Tom Bischof. Das seien neben den Leistungen „die kleinen Gesten, die ich wahrnehme“, so der Bundestrainer – und sie imponieren ihm, zumal der 19-jährige Debütant ja bald einer derjenigen sein könnte, der Ordnung im Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft schafft.

Bischofs erster Einsatz im Nationaltrikot hat bleibenden Eindruck hinterlassen. „Er bringt sehr viel mit und ist ein sehr, sehr feiner Fußballer“, sagt Nagelsmann über den bisherigen Hoffenheimer, der zum FC Bayern wechselt. Anpassungsschwierigkeiten offenbarte das Talent nach seiner Einwechslung im verlorenen Spiel um Platz drei der Nations League nicht. Spielfreudig und frech – so präsentierte sich Bischof, als er Leon Goretzka nach 65 Minuten gegen Frankreich ersetzte.

Ein Bild mit Symbolcharakter? Die Münchner sehen in Bischof die Zukunft und Nagelsmann, der auf der Suche nach einer neuen Zentrale ist, womöglich auch. Sowohl im Verein als auch beim Verband weiß man Goretzkas aktuelle Form zu schätzen – und seine Hartnäckigkeit, sich vom Aussortierten zum Unverzichtbaren hochzuarbeiten. Jedenfalls galt der 30-Jährige bei den Diskussionen über die Mittelfeldbesetzungen zuletzt im Kreis des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) als gesetzt. Es ging nur darum, wer an seiner Seite auf der Doppelsechs spielt.

In Stuttgart beim 0:2 gegen die Équipe Tricolore war es Pascal Groß. Zuvor Aleksandar Pavlovic gegen Portugal (1:2) sowie Angelo Stiller (3:3 in Dortmund) und Groß (2:1 in Mailand) gegen Italien. Viertel- und Halbfinalpartien der Nationenliga. Goretzka überzeugte weitgehend, allerdings als sogenannter Box-to-Box-Spieler. Er ist weder klassischer noch moderner Sechser, weder ein Abräumer, der die Abwehr beschützt noch ein Stratege, der den Spielrhythmus vorgibt – sondern mit seiner Dynamik und Torgefährlichkeit irgendwas dazwischen.

Nimmt man die Mini-EM in München und Stuttgart jedoch als Mustermesse für den Mittelfeldstandard im europäischen Spitzenbereich, dann stellt sich schon die Frage, ob Goretzka in dieser Rolle der Richtige ist. Bei den portugiesischen Turniersiegern sowie den spanischen Europameistern geht es viel um Spielkontrolle. Und wer den Ball sicher in seinen Reihen weiß, schafft dafür die besten Voraussetzungen.

Aus der Mitte entsteht der Spielfluss, mit vielen Pässen und großer Präzision. Zurzeit am stärksten vorgeführt von Vitinha. Um ihn kreiseln die Aktionen der Portugiesen sowie des Champions-League-Siegers Paris Saint-Germain. Der 25-Jährige verkörpert mit seinen 1,72 Meter an Körpergröße das Ideal. Er ist ständig anspielbar und verliert nie den Ball. Permanente Positionswechsel inbegriffen. „Man kann sie nicht so richtig in eine Schablone pressen, da ist viel Bewegung, ähnlich wie bei PSG“, sagt Nagelsmann.

Bayerns Pavlovic und VfB-Profi Stiller kommen diesem Ansatz mit ihrer Spielweise am nächsten, eventuell mit Bischof als Alternative. Mit feinen Füßen ausgestattet, die dem Spiel eine Richtung geben können. Doch das klingt ein Jahr nach der EM und ein Jahr vor der WM nach einer Zukunftslösung, die im Hier und Jetzt noch nicht oft erprobt wurde. Die Gegenwart gehört immer wieder Groß, nachdem Robert Andrich ohne seine Funktion als Leibwächter für den Fußballrentner Toni Kroos in das Reservistendasein gerutscht ist. Groß ist jedoch schon 33 Jahre alt, gilt allerdings als verlässlicher Partner. Auch für die Weltmeisterschaft 2026?

Der Rekordnationalspieler und Fernsehexperte Lothar Matthäus fordert dafür Joshua Kimmich im Zentrum. Der Kapitän sei der beste Mann, um das Herzstück zu besetzen. Gerade in einem Konstrukt, das Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz zum Zaubern bringen soll. Nur: der Bundestrainer braucht Kimmich als Rechtsverteidiger. „Es gibt im deutschen Fußball Positionen, die zu wenig beachtet werden: Außenstürmer oder Außenverteidiger“, sagt der Bundestrainer. Es sei eine Illusion, diese jahrelangen Versäumnisse schnell aufholen zu können. „Wir können die Welt nicht einreißen. Ich spüre aber etwas Besonderes in der Truppe. Da schlummert sehr viel Potenzial.“

Stiller verfügt bereits jetzt über die Fähigkeiten, das Spiel der DFB-Elf mit seiner Passsicherheit und Pressingresistenz zu bereichern. Womöglich ist der Stuttgarter, der nach dem Pokalsieg verletzt absagen musste, ein heimlicher Gewinner nach den zwei Niederlagen beim Final Four.

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Erstellt:
9. Juni 2025, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
10. Juni 2025, 21:56 Uhr

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