Mullahs unter Druck

Irans Regime lässt die Jugend plötzlich singen und tanzen

Bedroht von Israel und dem Klimawandel: Die in Bedrängnis geratene Mullah-Führung duldet Rockkonzerte und Frauen mit offenem Haar.

Iranische Frauen nutzen die Schwäche des Regimes und zeigen sich gerade immer häufiger ohne Kopftuch.

© AFP/Atta Kettare

Iranische Frauen nutzen die Schwäche des Regimes und zeigen sich gerade immer häufiger ohne Kopftuch.

Von Thomas Seibert

Eine Rockband hat ihre Instrumente auf einem Bürgersteig in der Innenstadt von Teheran aufgebaut und spielt vor Hunderten von Passanten, darunter viele junge Frauen mit offenem Haar. Videoaufnahmen von dem Auftritt wurden in sozialen Medien millionenfach angeschaut, doch Musiker und Zuschauer blieben unbehelligt, obwohl sie gegen mehrere Vorschriften des Mullah-Regimes verstießen. Ähnliches spielt sich außerhalb der iranischen Hauptstadt ab. Das liegt nicht daran, dass Regimechef Ali Khamenei toleranter geworden wäre. Er hat andere Sorgen und lässt deshalb junge Iraner singen und tanzen – vorerst.

Dem 86-jährigen Khamenei und der iranischen Führung steckt die Niederlage im Krieg gegen Israel im Juni in den Knochen. Der kurze Konflikt mit dem Erzfeind, der von den USA unterstützt wurde, legte die Schwächen der iranischen Flug- und Raketenabwehr offen. Israel und USA zerstörten Flugabwehrstellungen, Raketenrampen, Atomanlagen und Regierungseinrichtungen im Iran. Hunderttausende Menschen flohen aus Teheran, weil ihr Staat sie und die Hauptstadt nicht schützen konnte. Khamenei blieb wochenlang im Bunker.

Iran kann gerade keinen innenpolitischen Konflikt brauchen

Danach stürzte der Iran in die nächste Krise: Der Klimawandel und jahrzehntelange Misswirtschaft ließen das Trinkwasser knapp werden. Weil schnelle Verbesserungen nicht in Sicht sind, denkt Präsident Massud Peseschkian laut über einen Umzug der Zehn-Millionen-Stadt Teheran nach. Die Wasserkrise folgte auf einen Winter, in dem der Iran trotz seiner großen Öl- und Gasvorräte viele Heizungen abschalten musste. Aussichten auf eine neue Atomvereinbarung mit dem Westen, die dem Iran einen Abbau der Sanktionen und wirtschaftlichen Aufschwung bringen könnte, gibt es nicht.

In dieser Häufung von Krisen wolle Khamenei nicht auch noch einen innenpolitischen Konflikt mit der jungen Generation anzetteln, sagt der Iran-Experte Arman Mahmoudian von der Universität Süd-Florida. Schon vor dem Krieg gegen Israel und der Wasserkrise lehnten die meisten Iraner die Mullah-Herrschaft ab. Nun habe die Unzufriedenheit mit dem Regime ein Ausmaß erreicht, das zu einer „Eruption“ führen könnte, sagte Mahmoudian unserer Zeitung. Israel könnte neue Proteste nutzen, um den Iran wieder anzugreifen.

Angesichts dieser Risiken erscheint es dem Regime ratsamer, Rockkonzerte zu dulden. „Was wir derzeit sehen, ist weniger eine ideologische Mäßigung als die Entscheidung des Regimes, sein Überleben zur Priorität zu machen“, sagt Mahmoudian. Das schafft Freiräume für viele, die endlich ohne Gängelung leben wollen. Als in Teheran im September Tausende zu einem Freiluftkonzert strömten, hätten die Bilder auch aus einer westlichen Hauptstadt stammen können: Frauen – die meisten ohne Kopftuch – und Männer in Jeans und T-Shirts tanzten und jubelten gemeinsam vor der Bühne.

Auch in anderen iranischen Städten gebe es Konzerte, Straßenmusik, öffentliche Yoga-Treffen und Tanzpartys, berichtete die „New York Times“. Dabei ist es verboten, in der Öffentlichkeit zu tanzen. Frauen müssen außerdem ihr Haar verhüllen. Doch die junge Generation der Iraner habe keine Angst mehr vor dem Regime, sagt die Teheraner Modemacherin Donya Amiri.

Die Hardliner protestieren schon wieder

In früheren Jahren reagierte die Führung um Khamenei auf äußere Bedrohungen oder Niederlagen, indem sie den innenpolitischen Druck verstärkte; die letzte große Protestwelle wurde vor drei Jahren niedergeschlagen. Diesmal sei es anders, weil das Regime befürchte, die Lage nicht mehr kontrollieren zu können, sagt Mahmoudian.

Wie lange das Laissez-Faire dauern wird, hängt nach Einschätzung von Mahmoudian davon ab, wann das Regime die Existenzkrise für überwunden hält. Eine neue Verbots- und Festnahmewelle, Gerichtsurteile und verstärkte Kopftuch-Kontrollen sind möglich.

Proteste von Hardlinern gegen die neuen Freiheiten veranlassen das Regime inzwischen dazu, in einigen Fällen einzuschreiten und öffentliche Exempel zu statuieren. Die Veranstalter eines Marathonlaufs, an dem Sportlerinnen ohne Kopftuch teilnahmen, wurden festgenommen. Eine Design-Ausstellung an der Universität Teheran musste vorzeitig schließen, weil junge Frauen ohne Kopftuch zusammen mit Männern eingelassen wurden.

Justizchef Gholamhossein Mohseni Ejei drohte mit einer strikteren Durchsetzung der Kopftuchpflicht. Von einer neuen Repressionswelle ist aber noch nichts zu sehen.

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Erstellt:
7. Dezember 2025, 15:46 Uhr

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