„Kindergesellschaft“ und viel Spielraum

Vor 75 Jahren: Erinnerungen an die Nachkriegszeit in Murrhardt (11) Mit Spielzeug konnten die meisten Eltern nach dem Krieg nicht groß dienen, doch die Kinder zeigten sich in dieser Hinsicht kreativ, und sie eroberten die Umgebung auf ihre Weise.

Auch das Gelände der Lederfabrik Schweizer in Murrhardt diente als Erkundungsgebiet. Foto: privat

Auch das Gelände der Lederfabrik Schweizer in Murrhardt diente als Erkundungsgebiet. Foto: privat

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Eine Kindheit ohne eine Fülle von Spielsachen verschiedenster Art ist für viele Menschen heute hierzulande kaum mehr vorstellbar. Doch in der „schlechten Zeit“ nach Kriegsende herrschte auch in diesem Bereich großer Mangel. Puppen oder Fahrzeugmodelle waren für Kinder wertvolle Schätze. Mädchen und Jungen verwandelten allerlei alte, oft auch beschädigte Gebrauchsgegenstände in Spielobjekte. Und da es noch keine Spielplätze wie heute gab, fanden sie in den Gebäuden und Gässchen der Walterichstadt sowie in der umgebenden Landschaft viele Orte, wo sie sich austoben konnten, wie Zeitzeugen erzählen.

In seinem Buch „Siebenknie“ berichtet Götz Schmidt, dass er draußen auf der Straße, am Murrufer und in der Landschaft „in unserer Kindergesellschaft“ die sonst deutlich zutage tretenden Standesunterschiede der Murrhardter Gesellschaft und den Konflikt mit den Flüchtlingen „nie gespürt“ habe. „Ich spielte ständig mit Herbert, dem (...) Sohn der Kaufmannsfamilie, in deren Wohnung wir einquartiert waren. (...) Ich lebte auf der Straße, am Bach, dem Stauwehr in der Murr, (...) in der Landschaft, im Wald. Ich zog umher mit den Jungen aus der Nachbarschaft. (...) Wenn ich den Bauern auf der Wiese half, die Kuh hielt, Heuhaufen zusammenrechte, bei der Apfelernte half, dann bekam ich ein Wurstbrot, so als wäre ich auch eine Arbeitskraft wie die Erwachsenen. (...) Viele Einheimische im Ort hatten ein ,Stückle‘ mit Obstbäumen und freuten sich über Hilfe. (...) Ich erlebte bei der Arbeit zum ersten Mal, dass die Einheimischen auch freundlich sein konnten. (...) Hier fühlte ich mich willkommen, obwohl mir nichts gehörte. (...) Die Milch holten meine Mutter und ich in Milchkannen von einem Bauern in Siebenknie (...), mein Onkel war dort Knecht. Der Weg war lang auf den Berg, ich freute mich auf die Wärme im Kuhstall. Auf dem Heimweg war es im Wald schon dunkel. Wir gingen den steil abfallenden Fußweg (...). Meine Mutter und ich sangen, oder sie erzählte mir mit lauter Stimme Geschichten, um meine Angst zu vertreiben. Ich stürzte nie und verschüttete die Milch nicht. Selten spürte ich so eine Zuwendung meiner Mutter. (...) Im dunklen Wald gehörten wir uns beiden und ich fühlte mich geborgen.“

Annemarie Meindl erinnert sich, dass sie und andere Kinder mit einer Milchkanne zu den amerikanischen Soldaten gingen, die damals in Häusern in der Römerstraße einquartiert waren. „Von ihnen bekamen wir schwarzen Tee und Kaugummi. Sie aßen rosafarbenen ,Cheese‘ aus olivgrünen Dosen. Das war aber wahrscheinlich kein richtiger Käse, sondern irgendeine süße Zubereitung aus Quark oder etwas Ähnlichem. Ich hätte so gerne davon probiert!“ Damals habe es eine Zeit lang keine normale Schokolade gegeben, sondern nur einen Ersatz aus Sojabohnen, der ihr aber nicht wirklich schmeckte. „Deshalb naschte ich Kakao, der mit Zucker vermischt war.“ Ihre Familie musste einige Wochen nach der Besetzung ihre Wohnung im oberen Stock des Gasthofs Hirsch verlassen. „Wir holten unsere Habe heimlich, ohne dass es die amerikanischen Soldaten bemerkten“, über die Fenster und den Eingang auf der Rückseite des Gebäudes heraus. „Mein Vater erzählte, dass die Amerikaner vorgehabt haben sollen, im Hirsch ein Freudenhaus für die Soldaten einzurichten.“ Doch der resolute Murrhardter August Sladek, der im Landratsamt tätig war und gute Beziehungen zur Militärregierung hatte, intervenierte in der Sache, sodass dieser Plan nicht umgesetzt wurde. „Gegenüber vom Hirsch war das Lebensmittelgeschäft und Café Graf mit Konditorei. Zu Ostern fertigte der Inhaber rote Zuckerhasen, und wir Kinder, die im Umkreis wohnten, bekamen die Reste der Zuckermasse aus den Formen. Wir spielten mit alten Fahrradreifen und -felgen, die wir mit Stecken antrieben und hinterherrannten. Wir hatten auch alte Holzfadenrollen aus der Schneiderwerkstatt meines Vaters, die wir an einer abschüssigen Stelle hinuntersausen ließen. Ebenso sogenannte Schneller, Glas- oder Keramikkugeln in verschiedenen Größen mit buntem ,Innenleben‘“, erinnert sich Annemarie Meindl. „Meist hatte eins von uns Kindern auch einen Gummiball, den wir an einer Hauswand hinaufwarfen und wieder auffingen. Bunt bemalte Holzkreisel steckten wir in das Loch eines Dolendeckels, wickelten eine Schnur darum, an deren Ende ein Stecken befestigt war, dann zogen wir mit einem Ruck daran, und dann tanzte der Kreisel.“

Mit dem Rad ging es an den Waldsee, schwimmen lernte Annemarie Meindl in der Murr.

„Eine Zeit lang sehr beliebt waren Stelzen aus teils bunt lackiertem Holz und Hüpfseile, die manchmal nur aus alten Schnüren zusammengedreht waren. Im Sommer war ich ab und zu bei meinen Großeltern in Fornsbach. Am Abend setzte mein Vetter Hans mich auf die Stange seines Fahrrads, und wir fuhren an den Waldsee hinaus. Es gab hinten eine Ecke, wo man gut ins Wasser hineinsteigen konnte, denn damals konnte ich noch nicht schwimmen.“ Dies habe sie „in der Murr gelernt, ganz allein. Am sogenannten Badwegle lief man hinaus bis zum Wehr, dort war das Wasser aufgestaut, und ein schmales Brückle ging darüber. Unterhalb konnte man auf dem Beton hinunter ins Wasser rutschen. Es gab zwei vertiefte Becken, im zweiten konnte man schwimmen. Dort war das Wasser nicht sehr tief, ich konnte noch stehen“, erklärt Annemarie Meindl.

„Zum Spielen gab es fast nichts, wir malten mit Kreide auf der Straße und machten Hüpfspiele, auch hatten wir Seile“, erinnert sich Gisela Franke. „Die kleine Grundschule in Steinberg hatte eine kleine Bücherei. Dort konnte man sich Bücher verschiedenster Art ausleihen, davon machten wir reichlich Gebrauch und das war für mich eine Fundgrube. Die Lehrerin, die uns unterrichtete, motivierte uns auch zum Lesen. So lasen wir zum Beispiel ,Heidi‘ von Johanna Spyri oder Karl May. Steinberg hatte ein zementiertes Becken mit sauberem Wasser, das als Feuerlöschteich diente und in dem die Kinder des Dorfes bis abends um 18 Uhr baden durften. Anschließend gingen Erwachsene aus Murrhardt ins Wasser, die mit Motorrädern oder Fahrrädern hinauffuhren. Die Murrhardter Kinder konnten kaum schwimmen, bevor das Freibad Anfang der 1950er-Jahre eröffnete. Am Ende des Sommers wurde das Becken sauber geputzt. Das war eine große gemeinsame Reinigungsaktion, bei der die meisten Dorfbewohner mit anpackten sowie diejenigen, die zum Schwimmen kamen“, so die Zeitzeugin.

„Wir gingen jeden Sonntag ins Kino – mein erster Kinobesuch war in Murrhardt – oben im Saal des Gasthauses ,Stern‘ und schauten Wildwestfilme an“, denkt Christian Franke an seine Kindheit zurück. „Danach spielten wir, wo die Möbelwerkstätten waren und heute das Parkhaus Graben steht, Indianer mit den Kindern aus den Gässchen in der Umgebung. (...) In der Lederfabrik Schweizer gab es für uns Kinder traumhafte Spielplätze, wo die Gerbholzrinde gelagert wurde, gab es geheime Gänge. In die eigentlichen Fabrikräume gingen wir natürlich nicht“, vielmehr seien sie außen entlang von Gebäude und Murr unterwegs gewesen.

Folkart Schweizer berichtet in seinem Buch „Aus Tradition für Qualität und Fortschritt“: „In der Lederfabrik in Murrhardt hatten wir oben eine kleine Wohnung. (...) Neben uns auf dem gleichen Stock wohnte die Familie Wurst. Der Vater war der Heizer der Fabrik und hatte einen Sohn in meinem Alter. Mit ihm, dem Gerhard, war ich während dieser Zeit ziemlich viel unterwegs. Das war eine sehr schöne Zeit, weil wir die ganze Fabrik als Spielplatz zur Verfügung hatten! Kinderspielplätze gab es nach dem Krieg natürlich noch nicht. (...) Mein Freund Gerhard Wurst und ich waren vor allem an den Wochenenden, wenn im Betrieb nicht gearbeitet wurde, gemeinsam unterwegs und konnten die ganze Fabrik unsicher machen. Egal ob auf dem Dach, im Lager oder in den Werkstätten: Wir waren in jedem Stockwerk zu Hause! (...) Direkt nach dem Krieg hatten wir keinen Fußball und keine Spielsachen. In der Zeit waren die Menschen noch mehr mit sich selbst beschäftigt und konnten nicht großartig über die Spielmöglichkeiten der Kinder nachdenken. Wir haben uns halt unsere Spielmöglichkeiten selbst gesucht! Auf unserem Fabrikdach stand beispielsweise früher in riesengroßen Lettern Louis Schweizer. Da saßen wir als Kinder so mit fünf, sechs Jahren, oft in dem ,O‘ und dem ,U‘ drin. Man konnte sich dann auch wunderbar durch die Buchstaben schlängeln. Alles immer direkt am Abgrund! Aber das wussten unsere Eltern natürlich nicht. (...) Später mussten die Buchstaben auf dem Fabrikdach abmontiert werden, weil sie zu sehr angerostet waren. Mein Freund Gerhard und ich fuhren dann auch (...) heimlich mit den Elektrowagen in der Fabrik herum. Die Elektrowagen waren die Nachfolger der Pferde, mit denen früher Material durch die Fabrik und über das Gelände transportiert wurde. Sie wurden abends elektrisch aufgeladen und waren dann morgens wieder einsatzbereit. Ich hatte ziemlich schnell raus, wie man den Elektrowagen von der Ladestation an- und abkoppelte. (...) Der heutige Parkplatz vor der Fabrik war früher der Garten, wo man nach dem Krieg Gemüse angepflanzt hat. (...) Unser Standardgetränk war Milch. (...) Solange wir in der Fabrik wohnten, hatten wir ja eine eigene Kuh. In dem Stall, in dem früher die Pferde untergebracht waren, standen zwei Kühe, eine für Onkel Fritz und eine für uns. Das war unsere Milchquelle! (...) Überquerte man den Bahnübergang am Rande des Fabrikgeländes, befand sich rechts direkt neben der Bahnlinie das Jagdhaus meines Großvaters Fritz. (...) Der Holzschuppen neben dem Jagdhaus war früher offen, dort war die (zum Gerben der Häute benötigte) Rinde in gerollten Einheiten gestapelt und gelagert. Das war natürlich ein idealer Spielplatz für uns Kinder. Man konnte Höhlen bauen und Indianer spielen.“

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Erstellt:
23. September 2020, 06:00 Uhr

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