Lötschental
Sintflut nach dem Bergrutsch?
Die Umgebung des Dorfes Blatten gleicht einer Mondlandschaft. Jetzt droht weitere Gefahr. Der Schuttkegel dürfte die aufgestauten Wassermassen nicht mehr lange halten können.

© Jean-Christophe Bott/KEYSTONE/dpa
Vom Bergdorf Blatten ist nicht mehr viel übriggeblieben.
Von Markus Brauer/dpa
Nach dem Gletscherabbruch in der Schweiz spitzt sich die Lage hinter der riesigen entstandenen Geröllhalde dramatisch zu: Das Flussbett der Lonza ist blockiert. Deshalb bildet sich dort ein See, dessen Pegelstand zeitweise drei Meter in der Stunde steigt.
Das habe sich zwar verlangsamt, berichten die Behörden im Lötschental. Der See breite sich nun in der Fläche aus. Sie rechnen aber damit, dass die immensen Wassermassen den See in den frühen Morgenstunden zum Überlaufen bringen.
„Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen“, sagt Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren. Was genau passieren könnte, versuchen Spezialisten nun rund um die Uhr mit Erfahrung und Computermodellen vorauszusagen.
Flutwelle oder Gerölllawine möglich
Dass eine riesige Flutwelle das Tal hinunter donnert, sei zwar nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, erklärt Staatsrat Stéphane Ganzer, Mitglied der Walliser Kantonsregierung. Der Druck durch das nachfließende Wasser der Lonza sei da, insofern könnten sich die Wassermassen auch plötzlich einen Canyon durch den Schuttberg brechen. Zudem werde am Freitag (30. Mai) oben im Tal mit 20 Grad Temperatur gerechnet. Dann schmelze der Schnee, was die Wassermengen noch erhöhe.
Nach Angaben von Studer ist allerdings ein Szenario wahrscheinlicher mit einem langsameren Abfluss, „dass der See sich schrittweise entleert, dass das in geordnetem Rahmen abläuft“. Gut sei, dass das Gefälle am Schuttkegel eher flach ist, betonte Studer.
Möglich sei auch, dass das Wasser das abgelagerte Material verflüssigt und mit ins Tal reißt. Aber auch dabei sei zu erwarten, „dass nicht allzu viel Geschiebematerial auf einmal abgeht.“ Im Ort Ferden weiter unten im Tal gibt es ein Staubecken und eine Staumauer. Experten gingen davon aus, dass dort sämtliches Material aufgehalten werde.
Weitere Felsstürze möglich
Die Lage am Berg ist nach wie vor gefährlich. Zum einen drohen am Berg Kleines Nesthorn weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Von dort waren Felsbrocken auf den Birschgletscher gestürzt, der unter der Last am Mittwochnachmittag (28. Mai) abbrach und ins Tal donnerte.
Von den gigantischen Mengen Geröll wurde ein Teil auf der gegenüberliegenden Talseite hochgeschoben. Dort drohen nun Gerölllawinen. Wie stabil der eigentliche Schuttpegel ist, weiß auch niemand. Weil darin Eis ist, könnten sich Wassertaschen bilden. Räumtrupps der Armee stehen zwar bereit, aber das Gebiet zu betreten sei noch zu gefährlich, so die Behörden.
„Die Leute haben alles verloren“
Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler spricht im Schweizer Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. „Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat. Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat.“
Auf Drohnenbildern war zu sehen, dass ein Großteil des Dorfes Blatten unter einer meterhohen Schuttschicht liegt. Die meisten der wenigen zunächst verschonten Häuser sind von der Lonza überflutet. Die rund 300 Einwohner waren vergangene Woche in Sicherheit gebracht worden.
Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird vermisst. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1500 Metern.
Betroffen ist auch der Weiler Ried nur einen Kilometer vor Blatten. Anwohner Daniel Ritler: „In ein paar Sekunden war die ganze Heimat kaputt.“ Hof und Haus habe er auf Bildern nicht mehr gefunden. „Es sah so aus wie auf dem Mond.“
Klimawandel Grund für die Katastrophe?
Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, betonte Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie Klimaeinflüsse.
Dennoch: „Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte“, konstatiert er. „Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht. Eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen.“
Durch Gletscherschmelze und schnelles Tauen von Schnee könnten Wasser und Wind das Gestein erodieren. Der Permafrost – die gefrorene Gesteinsschicht – werde immer wärmer, die Schicht, die bei Sommertemperaturen auftaue, immer tiefer.
„Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht – auch im Inneren des Berges – und das schmiert und fördert die Beweglichkeit, getrieben von der Gravitation“, erläutert Beutel.
Was sind die Ursachen für die Häufung von Felsstürzen?
Das Lötschental ist auch ein Urlauberparadies, im Sommer mit Wander- und Kletterrouten sowie Bergseen und viel unberührter Natur und mit Blick teils auf 40 Viertausendergipfel, im Winter mit kilometerlangen Skipisten. Es war bis zur Eröffnung des Lötschbergtunnels 1913 und dem Bau einer Straße in den 1950er Jahren nur schwer erreichbar.
Vielerorts in den Alpen lockert sich mit dem Klimawandel Gestein, weil die gefrorenen Felsschichten antauen oder weil eindringendes Wasser Druck in Spalten erzeugt, die früher ganzjährig von Schnee und Eis bedeckt und durch den Permafrost zusammengehalten wurden. Die Menschen sind alarmiert.
Klimawandel macht Felsstürze wahrscheinlicher
Das Abtauen des Permafrosts führt zu Rissen im Fels. Das könnte, so die Vermutung von Geologen, den Vorfall im Kanton Schwyz verursacht haben. Der Klimawandel macht Felsstürze sehr viel wahrscheinlicher. Wenn Permafrost auftaut, können Berge ihre Stabilität und damit Schutt und Geröll ihren Halt verlieren.
Hochgebirge werden vom Permafrost zusammengehalten, der dafür sorgt, dass das Gestein ganzjährig gefroren ist. Der Permafrost taut, und das Gebirge wird instabiler. Beim Schweizer Alpen-Club SAC heißt es, dass früher oft gegangene Touren heute im Sommer „Todesfallen“ seien. Loses Geröll und abgerutschte Blöcke „so groß wie Einfamilienhäuser“ machten das Gelände zu gefährlich.